Die Menschheitsseele

[350] Ich war bei dir, in einem andern Leben,

Und doch, ein andres Leben war es nicht.

Ich sah dich wie in Lichtes Fluthen schweben,

Und doch und doch gebrach es mir an Licht.

Ich war bei dir, ich weiß nicht, ob am Tage,

Ob auch vielleicht in sternenarmer Nacht,

Und finde keine Antwort auf die Frage,

Welch Intervall mich dir emporgebracht.


Es schien mir wie in unbekannter Ferne,

Und doch war diese Ferne mir bekannt;

Du strahltest wie auf einem andern Sterne,

Und doch war dieser Stern mein Vaterland.

Wir trafen uns so weltenabgelegen,

Ich weiß es nicht, in welchem Geisterreich;

Du kamst wie eine Fremde mir entgegen,

Und doch und doch erkannte ich dich gleich.[350]


Ich hatte dich so oft, so gern gesehen,

Als pilgernd ich zum Morgenlande kam;

Ich sah dich leiden, und so ists geschehen,

Daß ich dein Bild im Herzen mit mir nahm.

Du gingst von dort nach allen, allen Landen,

Doch, wo du grüßtest, dankte man dir kaum.

So bliebst du unbeachtet, unverstanden,

Ein armes Weib der Menschheit Jugendtraum.


Nun war ich bei dir, jetzt, emporgetragen

Von meiner Liebe, die dir treu verblieb,

Denn wie sie dich geliebt in jenen Tagen,

So hat dich meine Seele jetzt noch lieb.

Und wie mein Herz dein Weh mit dir gelitten,

Der Menschheit großes, selbstverschuldet Leid,

So hab ich muthig stets für dich gestritten

Und bin für dich auch ferner kampfbereit.[351]


Mir ist ja die Erkenntniß aufgegangen,

Die leider nicht ein Jeder in sich trägt,

Daß der Verwandtschaft Bande uns umfangen

Und daß mein Puls grad wie der deine schlägt.

Ich weiß es, daß ich mit dir steh und falle,

Daß deine Zukunft auch die meine ist

Und daß als leiser Ton ich mit erschalle

In dem Accorde, dessen Klang du bist.


Als dieser Ton bin ich emporgeklungen

Auch heut zu dir und klinge fort und fort;

Als dieser Ton hab ich auch mitgesungen

Dein Klagelied, dein holdes Friedenswort.

Ich weiß es wohl, es wird umsonst erklingen,

So viel der Mensch vom Völkerfrieden spricht;

Ihn kann ja nur die wahre Liebe bringen,

Und diese, diese kennt der Mensch noch nicht.[352]


Ich dachte dein und durfte zu dir steigen;

Es war so licht, so hell, so klar bei dir,

Und dennoch konntest du dich mir nicht zeigen,

Denn dunkel, menschendunkel wars bei mir.

Du gingst vorüber, und in frommer Feier

Verklang in mir der Wehmuth heilger Ton;

Es legte sich um mich der Hoffnung Schleier – –

Du warst verschwunden, warst der Welt entflohn.[353]


Quelle:
Himmelsgedanken. Gedichte von Karl May. Freiburg i.Br. (1900), S. 350-354.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Himmelsgedanken
Himmelsgedanken. Gedichte
Himmelsgedanken. Gedichte von Karl May

Buchempfehlung

Reuter, Christian

Der ehrlichen Frau Schlampampe Krankheit und Tod

Der ehrlichen Frau Schlampampe Krankheit und Tod

Die Fortsetzung der Spottschrift »L'Honnête Femme Oder die Ehrliche Frau zu Plissline« widmet sich in neuen Episoden dem kleinbürgerlichen Leben der Wirtin vom »Göldenen Maulaffen«.

46 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon