Die Laubthaler

Humoreske von Karl May

Kennt Ihr den alten Bäckermeister Franz Halbermann auf der Obergasse? Nicht? – Nun, das ist jammerschade, denn er ist ein gar lieber, wackerer Kumpan, was Einen eigentlich gar nicht Wunder nehmen kann, denn er ist ein Sachse, da aus der Gegend von Dresden oder gar von Potschappel her, und Ihr wißt ja Alle, daß Dresden und besonders Potschappel an Gemüthlichkeit ihres Gleichen suchen. Er wird von seinen Nachbarn und Bekannten der Kürze und der gewohnten Sitte wegen nicht anders als der Bäckerfranz genannt, hat auf seinen weiten Gesellenfahrten und auch dann später viel erlebt und versteht es, seine kleinen, possirlichen Abenteuer so drastisch und auschaulich zu erzählen, daß es eine helle Lust ist, ihm zuzuhören. Er liest außerordentlich gern, und unter allen Schriften und Büchern, die er hält oder kauft, steht ihm das Blatt, in dem der freundliche Leser dies liest, obenan, denn warum? Sie sind ja Beide gar nicht weit voneinander zu Hause, und auf Landsleute muß man immer etwas halten.

So oft die neueste Nummer kommt, steckt er sie hübsch sorgfältig in die Tasche und steigt mit ihr hinüber nach dem »goldnen Ring«, wo die Stammgevattern um den runden Tisch sitzen. Dort putzt er sich die großen, runden Brillengläser, schiebt das Messinggestell hinter die Ohren und beginnt die Vorlesung, auf die sie Alle schon seit dem letzten Hefte gewartet haben.

Auch heute sitzen sie dort beisammen und horchen gespannt auf das Ende der Geschichte, die eben an der Reihe ist.

»Aber das war schön,« meint der Wirth; »ich bin nur froh, daß sie einander noch bekommen haben! Aber wissen möchte ich doch, ob das Alles wirklich passirt ist oder ob sich's die Dichter und Gelehrten nur so aussinnen.«

»Aussinnen? Hm, möglich wär's am Ende schon,« meint der Bäckerfranz, indem er das Blatt in die Tasche schiebt; »aber im Leben passiren oft noch viel schönere und wunderbarere Geschichten, als in den Büchern. Wenn ich gut auf der Feder wäre, so könnte ich aus meinen eigenen Erlebnissen gar manche schöne Geschichte schreiben, bei der ich mir nicht das Geringste auszusinnen brauchte. Denkt nur zum Beispiel einmal daran, wie ich zu meiner ›Alten‹ gekommen bin! Es sind Viele unter Euch, die haben noch nichts davon gehört. Soll ich's Euch vielleicht einmal erzählen?«

»Ja, ja, erzähl' es, Franz!« ruft es im Kreise, während man erwartungsvoll zusammenrückt.

»Nun gut, so mag es losgehen; aber schwatzt mir nicht unnöthig d'rein; Ihr wißt, ich kann's nicht leiden!«

Er beginnt. Hinten in der Ecke aber sitzt Einer, dessen Name hier oben unter der Ueberschrift zu lesen ist und der gar aufmerksam zuhört, um die Geschichte für Bäckerfanzens Lieblingsblatt wegzuangeln. Was er wohl sagen wird, wenn er sie dort findet?! –

Quelle:
Die Laubthaler. Humoreske von Karl May. In: Weltspiegel. 3. Jg. 1879. Dresden (1878). Nr. 12, S. 184.
Humoreske von Karl May. In: Weltspiegel. Illustrirte Zeitschrift zur Unterhaltung und Belehrung für Jedermann. 3. Jg. 1879. Nr. 12–14. Heft 6–7. S. 184–186, 200–202 u. 216–218. – Dresden: Adolph Wolf (1878). Reprint in: Erstdrucke Karl Mays in Faksimile-Ausgaben. Serie VIII: Beiträge in der Zeitschrift »Weltspiegel« (1877–1879). Hamburg: Karl-May-Gesellschaft 1974.
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