Ein Bann

[237] Daß ich längst schon zähle zu den Leichen,

Sagt dir's nicht der dorngekrönten, bleichen

Stirne Trauermal und Kainszeichen?


Hat dir meiner Lippen zuckend Beben

Trübe Kunde nicht schon längst gegeben,

Daß vom Schmerz und Schuld zerstört mein Leben?


Und du wolltest dennoch, dennoch wagen,

Deine Seele jener zuzusagen

Die des Friedens Gottesbild zerschlagen?


Und so mächtig wähnst du deine Rechte,

Daß sie siegreich aus der Nacht der Nächte

Mich zurück zum Quell des Lichtes brächte?
[238]

Mag dein Angesicht sich drob entfärben,

Wissen mußt du's: jedes fromme Werben

Zahlt' ich noch mit Jammer und Verderben.


Meiner nicht, es war des Schicksals Wille!

Treten nicht aus ihrer Schauerstille,

Soll die einsam träumende Sibylle!


Wer dem dunkeln Geisterreich verfallen,

Geb' es auf, in festgeschmückten Hallen

An Geliebter Seite hinzuwallen.


Geisterlaute, welche zu ihm dringen,

Oeffnen zwischen ihm und ird'schen Dingen

Eine Kluft, die nicht zu überspringen.


Will er Segen dir und Liebe spenden,

Wehe dir und ihm! In seinen Händen

Wird das Heil sich bald in Jammer wenden.


Eifersüchtig sind die dunkeln Mächte,

Unzerreißbar ihres Bann's Geflechte,

Strenge wahren sie erworb'ne Rechte.
[239]

Für das Herz, das sehnend und verblendet,

Ihren Walten einmal sich verpfändet,

Ist der Erde süßer Traum beendet.


Seine Liebe kann sein Glück nicht dauern,

Aus der holden Täuschung wird's mit Trauern

In der Wahrheit Reich zurückeschauern.


Was es aufgebaut, wird es verheeren,

Wird belastet mit den fremden Zähren

Und dem eignen Fluche heimwärts kehren.


Um in still geheimnißvollem Walten

Zu vergessen bald, daß sein Erkalten

Ein vertrauend, liebend Herz gespalten.


Was von mir und meiner Lieb' zu hoffen,

Liegt vor deinem Blick nun klar und offen.

Flieh den Pfeil, bevor er dich getroffen.

Quelle:
Betty Paoli: Neue Gedichte. Pest 21856, S. 237-240.
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Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

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