Am 5. September

[127] An Ida.


Als dämmernd noch das Leben vor mir lag,

Mein Herz noch nichts errungen, nichts verloren,

Nicht ahnt' ich da, daß mir an diesem Tag

Mein bestes Kleinod ward zur Welt geboren!

Nicht ahnte ich, daß heut' der hellste Stern

An meinem Horizonte aufgegangen,

Daß meines Wesens innerlichster Kern

Den vollen Abschluß heute erst empfangen.


Ich ahnt' es nicht; erst jetzt erkenn' ich's ganz!

Nur eines kann ich auch noch jetzt nicht fassen:

Daß deiner Liebe heller Strahlenkranz

Auf meine Stirn sich mochte niederlassen.

Es heißt ja doch, daß nur um Gleich und Gleich

Die Bande sich wahrhaft'ger Freundschaft weben.

Du aber bist so reich, so überreich,

Und ich, – – was hab' ich Arme dir zu geben?


Nichts als mich selbst! doch diese Gabe schafft

Dir Sorgen nur und immer neue Mühen!

Denn stützen mußt du mich mit deiner Kraft,

Dein böses altes Kind zum Guten ziehen.

Du mußt, bald ernst und streng, und bald gelind,

Hier raten, trösten, strafen dort und wehren,

Und die Gedanken, die das Leben sind,

Den erdgebund'nen Geist erst denken lehren.
[128]

Tief schmerzlich überkommt mich's manchesmal:

O daß ich früher, früher dich gefunden,

Als ungetrübt noch meines Auges Strahl,

Und meine Brust noch rein von Schuld und Wunden!

Dann wäre nie des Samums glüher Hauch

Vergiftend über mich hinweggegangen!

Ich gliche nicht dem blitzversengten Strauch,

Und könnte geben, statt nur zu empfangen!


Doch, hat voreinst nicht aus des Heilands Mund

Die schmerzenmüde Welt dies Wort vernommen:

»Für jene nicht, die kräftig und gesund,

Nein! für die Kranken ist der Arzt gekommen«?

Du treuer Arzt! so hast, als, wüst und wirr,

Das Fieber mich der Leidenschaft bezwungen,

Du mich gepflegt, und liebest nun in mir

Die Beute, die dem Tod du abgerungen!

Quelle:
Betty Paoli: Gedichte. Auswahl und Nachlaß, Stuttgart 1895, S. 127-129.
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