Neuntes Kapitel.

[47] Als er aber nachdachte, was er zu tun hätte, da wurde er überaus traurig, denn wo sollte er hingehen, um die Nadel zu finden? Zwei Tage streifte er fruchtlos umher, da kam er auch an den Wald, wo er erzogen ward. Und als er hineintrat, gedachte er der Gyrmantis und konnte nicht widerstehen sie zu sehen, die schönlockige Pflegerin seiner Jugend. Er suchte das Haus, wo sie wohnte. Als er herankam, sah sie ihn von der Ferne und trat ihm entgegen, gar freudig in ihrem Herzen. »Liebster,« sagte sie, »hast du gefunden, was du gesucht hast?« »Ach nein, ich finde sie nicht, ich suche vergebens«, gab er zur Antwort. »Wie?« entgegnete sie, »du hättest kein Fräulein gefunden, die holdselig wäre und gut, um das du werben könntest, und erproben, ob sie dir bestimmt sei?« »Ach,« sagte er, »das Fräulein hab' ich gefunden, aber ihr Glück hängt an einer Stecknadel, wie meines an ihr.«[47] Da erzählte er denn alles der Pflegerin seiner Jugend. Und Gyrmantis begann zu sprechen und sagte: »Nach allem, was ich von jener Alten höre, so möchte ich fast glauben, es sei dieselbe, die mich einst besucht hat. Damals kannte ich sie nicht; nun aber weiß ich, daß sie eine Fee ist, Pfefferlüsch mit Namen, sehr böse und zornmutig. Mögest du bei ihr dein Glück versuchen! Sie wohnt in diesem Walde in einer strohdachnen Hütte.« Und die Königin zeigte ihrem Pflegersohn den Weg nach der Hütte und nahm gar rührend Abschied und versprach zu seiner Hochzeit zu kommen.

Bald sah Rosensohn die Wohnung der Alten und klopfte. »Herein!« erscholl eine krächzende Stimme. Er trat hinein, da saß die Fee Pfefferlüsch bei einer Flasche Wein, an ihrem Halstuche aber erblickte er die Nadel, unten von Stahl, oben von Silber, den Knopf von eitel Gold. »Nun, was wollt Ihr denn, schöner Herr,« sagte sie, »womit kann ich dienen?« Aber Rosensohn gegenredete kurzbündig: »Es ist hier von keinem Dienste die Rede, bei dem's auf Eurer Wollen ankömmt. Die Nadel sollt Ihr wieder herausgeben, die Ihr der schönen Lilla genommen habt.« »Gut, daß Ihr kommt,« sagte sie, »da mögt Ihr sie hinnehmen.« Hiemit zog sie sie aus dem Tüchlein. Aber Rosensohn merkte ihre Absicht, daß sie ihn damit berühren und festbannen wollte. Da kam er ihr schnell zuvor und schlug sie so derb auf die Finger, daß sie die Nadel fallen ließ, die er eilig aufhob. Kaum aber war dies geschehen, so drehte sie den kostbaren Zauberring um, den sie an der Hand hatte, und unter seinen Füßen tat sich der Boden auf, und er versank in eine finstere Kluft, in die kein Tageslicht hineinschien.

Quelle:
August Graf von Platens sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 11, Leipzig [1910], S. 47-48.
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