Edgar Allan Poe

Ligeia

... Und der Wille liegt darin, der nicht stirbt. Wer kennt die Geheimnisse des Willens und seine Macht? Denn Gott ist nur ein großer Wille, der alle Dinge mit der ihm eigenen Kraft durchdringt. Lediglich aus Willensschwäche überliefert sich der Mensch dem Tode.

Joseph Glanvill.


Ich kann mich bei meiner Seele nicht mehr erinnern, wie, wann, noch wo ich die Lady Ligeia kennen lernte. Lange Jahre sind seit der Zeit verflossen, und bittere Leiden haben mein Gedächtnis geschwächt. Vielleicht kann ich mich auch bloß jetzt nicht mehr daran erinnern, da der Charakter meiner Geliebten, ihre seltsamen Kenntnisse, die Art ihrer so eigentümlichen, sanften Schönheit, und die scharfsinnige und sieghafte Beredsamkeit ihrer tiefen, musikalischen Stimme sich mit so gleichmäßigen, friedlichen, beständigen Schritten den Weg zu meinem Herzen gebahnt haben, daß ich nicht darauf achtete und daß es mir nie zum Bewußtsein kam.

Doch kommt es mir vor, als habe ich sie zum erstenmal und noch viele Male nachher in einer großen, alten, verfallenen Stadt am Ufer des Rheins gesehen. Ich glaube auch bestimmt, daß sie mir von ihrer Familie erzählt hat, und zweifle nicht, daß dieselbe außerordentlich alten Ursprungs war. – Ligeia! Ligeia! – In Studien vergraben, deren[272] Natur mehr als alles andere geeignet ist, die Eindrücke der äußeren Welt abzuschwächen, genügt mir dies eine süße Wort: Ligeia! um das Bild der Abgeschiedenen vor meinen Augen wiedererstehen zu lassen. Und jetzt, während ich schreibe, durchfährt mich plötzlich wie ein Blitz die Gewißheit, daß ich ihren Familiennamen überhaupt nie gewußt habe – den Namen der Teuren, die mir Freundin und Braut war, die mein Studiengenosse und endlich die Gattin meines Herzens wurde. War es auf irgendeinen liebestörichten Wunsch meiner Ligeia geschehen – war es ein Beweis der Kraft meiner Zuneigung, daß ich mir niemals Auskunft über diesen Punkt verschaffte? oder war es vielleicht eine Laune meinerseits – ein bizarres, romantisches Opfer auf dem Altare meiner leidenschaftlichen Anbetung? Ich kann mich nur sehr dunkel auf die Tatsache selbst besinnen – ist es also erstaunlich, daß ich die Umstände, die sie hervorriefen und begleiteten, vollständig vergessen habe? Und in der Tat, wenn jemals der Geist der Seltsamkeit, wenn jemals die bleiche Ashtophet des götzendienerischen Ägypten mit ihren finsteren Schwingen unheilverkündend bei einer Hochzeit zugegen war, so war sie es bei der meinigen.

Doch – was Ligeia selbst, was ihr Äußeres anbetrifft, da ist mir mein Gedächtnis vollkommen treu ge blieben: Sie war hochgewachsen, schlank, ja, in ihren letzten Tagen sogar sehr abgemagert. Es wäre vergebliche Mühe, wollte ich die Majestät, die ruhige Gelassenheit ihrer Haltung, die unbegreifliche[273] Leichtigkeit und Elastizität ihres Ganges beschreiben. Sie kam und ging wie ein Schatten. Ich bemerkte niemals, daß sie in mein Arbeitszimmer getreten, wenn ich nicht die geliebte Musik ihrer sanften, tiefen Stimme vernahm oder ihre marmorweiße Hand auf meiner Schulter fühlte. Der Schönheit ihres Antlitzes ließ sich nichts auf Erden vergleichen. Sie war wie die Blüte eines Opiumtraumes, wie eine unirdische, geisterhaft schöne, verzückte Vision, seltsamer und himmlischer wie die Traumgebilde, die durch die schlummernden Seelen der Mädchen von Delos ziehen. Doch waren ihre Züge nicht von jener Regelmäßigkeit, die man uns in den Schöpfungen des Heidentums falscher Weise zu bewundern gelehrt hat. ›Es gibt keine erlesene Schönheit‹, sagt Lord Verulam einmal, als er von allen Formen und Arten der Schönheit spricht, ›ohne eine gewisse Seltsamkeit in der Proportion.‹ Jedoch trotzdem ich sah, daß die Züge Ligeias nicht von klassischer Regelmäßigkeit waren, trotzdem ich fühlte, daß ihre Schönheit erlesen und von jener Seltsamkeit vollständig durchdrungen schien, bemühte ich mich vergebens, diese Unregelmäßigkeit zu entdecken und den Sitz jenes Seltsamen zu ergründen. Ich studierte die Umrisse ihrer hohen, bleichen Stirn, – sie war tadellos! Wie kalt klingt dieses Wort auf soviel göttliche Majestät angewandt! – ihre Hautfarbe, die mit dem reinsten Elfenbein wetteiferte – die imposante Breite, die Ruhe ihrer Schläfen, die graziösen Hügel über denselben, und[274] dann jene rabenschwarze, schimmernde, üppige Fülle natürlich gelockten Haares, auf welches das Homerische Wort ›Hyazinthenfarbenes Haar‹ eigens geprägt schien. Ich betrachtete die zarten Linien der Nase und entsann mich nicht, irgendwo, außer vielleicht in den Angesichtern auf alten hebräischen Medaillons, eine ähnliche Vollkommenheit gefunden zu haben. Sie hatte diese weiche, köstliche Oberfläche, diese gleiche, kaum noch wahrnehmbare Neigung zu einer kleinen Biegung, dieselben harmonisch gerundeten Nasenflügel, die auf einen freien Geist hindeuten. Ich betrachtete ihren Mund, der ein Triumph aller himmlischen Dinge zu sein schien, den glorreichen Bogen der kurzen Oberlippe, die sanfte, üppige Ruhe der Unterlippe, die Grübchen, die spielten, und die Farbe, die sprach, die Zähne, die mit blendendem Glanze jeden Strahl des gesegneten Lichtes zurückwarfen, das ihr ruhiges, heiteres und zugleich blendendes, triumphierendes Lächeln auf sie legte. Ich erforschte die Form ihres Kinnes – und fand auch da Grazie in seiner Breite, Sanftheit in seiner Majestät, Fülle und griechische Geistigkeit – jene Linie, die der Gott Apollo nur im Traume dem Cleomenes, dem Sohne des Cleomenes aus Athen, zeigte; und dann forschte ich in Ligeias großen Augen.

Für Augen finden wir in dem fernen Altertum kein Vorbild. Vielleicht barg Ligeias Schönheit gerade in ihnen jenen geheimen Reiz der Seltsamkeit, von der Lord Verulam spricht. Sie waren, glaube ich, größer als gewöhnlich die Augen der[275] Menschen sind, und schöner geschnitten als die schönen Augen der Gazellen aus dem Tale Nourjahad. Aber nur hin und wieder, in den Momenten äußerster Erregung, wurde dieses Besondere in ihnen deutlich wahrnehmbar. In diesem Augenblick war Ligeias Schönheit – oder schien wenigstens meinen entflammten Blicken so – ganz unirdisch, wie die der erträumten Houris der Türken. Ihre Pupillen waren von strahlendstem Schwarz, von ebenholzfarbenen Wimpern tief überschattet, und die Brauen von leicht unregelmäßiger Zeichnung hatten die gleiche Farbe. Doch war das Seltsame, das ich in den Augen fand, unabhängig von ihrer Form, ihrer Farbe und ihrem Glanze – ich konnte es nur dem Ausdruck zuschreiben. Ach! ein Wort ohne Sinn! Eine große Leere, in die sich all unsere Unwissenheit auf dem Gebiete des Seelischen rettet. Der Ausdruck der Augen Ligeias! – Wie lange Stunden habe ich über ihn nachgegrübelt! Wie manche lange Sommernacht hindurch mich bemüht, ihn zu ergründen! Was war es, dieses unbestimmte Etwas, das, tiefer als in den Brunnen des Demokritos, auf dem Grunde der Augen meiner Geliebten verborgen lag? Was war es? Ich war wie besessen von dem leidenschaftlichen Wunsche, es zu enträtseln. Diese Augen! Diese großen, strahlenden, himmlischen Pupillen! Sie wurden für mich das Zwillingsgestirn der Leda, und ich war ihr eifrigster Sterndeuter.

Unter den zahlreichen und unverständlichen Anomalien in der Wissenschaft der Psychologie[276] gibt es wohl keinen Punkt, der uns mehr beschäftigen und erregen könnte als die Tatsache, daß wir, wenn wir uns auf etwas lang Vergessenes besinnen wollen, oft bis dicht an die Ufer der Erinnerung kommen, ohne uns in Wirklichkeit und völlig erinnern zu können. Und wie oft fühlte ich, wenn ich so saß und über Ligeias Augen nachsann, wie die Erkenntnis der Bedeutung ihres Ausdrucks bis dicht an mich herankam! Ich fühlte, wie sie sich näherte, ohne mich jemals zu erreichen, wie sie vollständig entschwand, da ich sie eben zu erfassen glaubte! Und – seltsames, o seltsamstes aller Geheimnisse! Ich habe in den gewöhnlichsten Gegenständen auf der Welt eine ganze Reihe von Analogien für diesen Ausdruck gefunden. Ich meine damit, daß ich nach der Zeit, in der Ligeias Schönheit meinen Geist durchdrungen und in demselben wie in einem Reliquienschrein ruhte, beim Anblick verschiedener Erscheinungen der äußeren Welt, eine Empfindung verspürte, die der ähnlich war, die sich unter dem Einfluß ihrer großen, leuchtenden Pupillen über mich und in mir verbreitete. Doch ist es mir ganz unmöglich, dieses Gefühl zu definieren oder zu analysieren, ich kann nicht einmal behaupten, daß ich es genau empfunden habe. Ich glaubte es nur zuweilen in dem Anblick einer schnell emporgeschossenen Weinrebe wiederzuerkennen oder in der Betrachtung eines Falters, einer Larve, eines schnell dahinschießenden Wassers. Ich fand es im Ozean wieder oder beim Fall eines Meteors.[277] Ich empfand es in den Blicken mancher außerordentlich alter Menschen. Am Firmament gibt es einen oder zwei Sterne (ich denke besonders an ein flackerndes Doppelgestirn sechster Größe, das man am nördlichen Himmel nahe bei der Leier finden wird), die in mir, so oft ich sie durch das Teleskop betrachtete, eine gleiche Empfindung herstellten. Ich fühlte mich von ihr durchdrungen bei gewissen Tönen von Saiteninstrumenten und manchmal auch bei Stellen aus meiner Lektüre. Unter zahlreichen Beispielen erinnere ich mich besonders lebhaft einiger Sätze aus einem Buche Glanvills, die (vielleicht nur wegen ihrer Bizarrerie – wer weiß?) mit Sicherheit dieses Gefühl in mir erweckten: ... Und der Wille liegt darin, der nicht stirbt. Wer kennt die Geheimnisse des Willens und seine Macht? Denn Gott ist nur ein großer Wille, der alle Dinge mit der ihm eigenen Kraft durchdringt. Lediglich aus Willensschwäche überliefert sich der Mensch dem Tode.‹

Im Laufe der Zeit und durch langes Nachdenken gelangte ich dahin, gewisse entfernte Beziehungen zwischen diesem Ausspruch des englischen Philosophen und einem Teile von Ligeias Wesen zu entdecken. Eine besondere Intensität im Denken, Tun und Reden war bei ihr vielleicht das Ergebnis oder wenigstens das äußere Zeichen jener übermenschlichen Willenskraft, die während unseres langen Zusammenlebens noch andere und deutlichere Beweise ihres Daseins hätte geben können. Von allen Frauen, die ich je gekannt,[278] war sie, die immer gelassene Ligeia mit dem ruhevollen Wesen, die schmerzzerrissene Beute der Geier wütendster Leidenschaftlichkeit. Ich ahnte diese Leidenschaftlichkeit nur aus der wunderbaren Ausstrahlung ihrer Augen, die mich zugleich entzückten und erschreckten, aus der zauberhaften Klangfarbe und Ruhe ihrer tiefen Stimme – ich folgerte sie aus der wilden Kraft der bizarren Worte, die sie oft aussprach und deren Wirkung durch den Kontrast zwischen ihrem Inhalt und ihrem Klang noch verdoppelt wurde.

Ich habe von den Kenntnissen Ligeias schon gesprochen: sie waren fast unbegrenzt – so wie ich sie ähnlich nie bei einer Frau gefunden habe. Sie beherrschte die klassischen Sprachen auf das gründlichste, und so weit mein Urteil über die modernen Sprachen Europas reicht, war sie auch ihrer so mächtig, daß sie nie eine Unrichtigkeit beging. Überhaupt, bei welchem Thema der so viel gerühmten akademischen Gelehrsamkeit habe ich jemals bei Ligeia einen Irrtum bemerkt? Wie sehr zog diese Seite im Wesen meiner Frau, besonders in der letzten Periode ihres Lebens, meine Aufmerksamkeit auf sich! Ich sagte schon, daß ihr Wissen das jeder anderen Frau, die ich kennen gelernt, weit übertraf, aber wo ist der Mann, der mit Erfolg das ganze ungeheure Feld der moralischen, physischen und mathematischen Wissenschaft bebaut hat? Damals sah ich noch nicht, was ich jetzt klar bemerke, daß Ligeias Gelehrsamkeit erstaunlich, geradezu beispiellos war; doch[279] hatte ich schon ein genügendes Bewußtsein ihrer unendlichen Überlegenheit, um mich zu bescheiden und mich mit kindlichem Vertrauen von ihr durch die chaotische Welt der Erforschung des Übersinnlichen, mit der ich mich in den ersten Jahren unserer Verheiratung lebhaft beschäftigte, leiten zu lassen. Mit welch ungeheurem Triumph, mit welch innigem Entzücken, mit welch himmlischer Hoffnung fühlte ich – während Ligeia an meiner Seite an diesen so wenig gepflegten und gekannten Studien teilnahm – wie sich mir allmählich jene wunderbare Fernsicht auftat, jener weite, kostbare, jungfräuliche Pfad, auf dem ich endlich zum Sitz einer Weisheit gelangte, die zu köstlich, zu göttlich ist, um nicht verboten zu sein!

Mit welch herzzerreißendem Schmerze sah ich nach einigen Jahren meine so fest begründeten Hoffnungen auf schnellen Schwingen entfliehen! Ohne Ligeia war ich nur ein Kind, das unsicher in finsterer Nacht umhertappt. Nur ihre Gegenwart, nur ihr Beistand konnte mir die dunklen Geheimnisse der übersinnlichen Welt, in die wir uns versenkt hatten, mit lebendigem Lichte erhellen. Ohne den Strahlenglanz ihrer Augen wurde diese ganze Wissenschaft, die mir bis dahin goldene Flügel verliehen, nächtig düster und eine drückende Last. Ihre schönen Blicke beglänzten immer seltener die Seiten, die ich mich emsig zu entziffern bemühte. Ligeia wurde krank. Ihre seltsamen Augen flammten in zu strahlendem Feuer, die bleichen Finger nahmen die wächserne Farbe des[280] Grabes an; und bei der leisesten Erregung schlugen die blauen Adern ungestüm an ihre hohe, weiße Stirn. Ich sah, daß sie sterben mußte, und kämpfte im Geiste verzweifelt mit dem düsteren Azrael.

Die Kämpfe dieses leidenschaftlichen Weibes waren zu meinem Erstaunen noch erbitterter als die meinigen. Ein Etwas in ihrer starken Natur hatte mich glauben gemacht, der Tod werde sich ihr ohne seine Schrecken nahen. Es war nicht so; Worte sind zu schwach, eine Vorstellung von der Wildheit und Zügellosigkeit des Widerstandes zu geben, den sie im Kampfe mit dem Schatten entfaltete. Ich seufzte oft angstvoll auf bei diesem trauervollen Schauspiel. Ich wollte sie beruhigen, wollte ihr mit Vernunftgründen Trost zusprechen, aber bei der wilden Heftigkeit ihres Verlangens, zu leben – zu leben – nur zu leben! – waren Vernunft und Tröstung äußerste Torheit. Doch bis zu ihrem letzten Augenblicke und unter den Qualen und Willenskrämpfen ihres wilden Geistes verleugnete sie nie die äußere Ruhe ihres Wesens. Ihre Stimme wurde sanfter – tiefer – ich wollte den bizarren Sinn der Worte, die sie mit so viel Ruhe aussprach, nicht verstehen. Mein Herz drohte zu zerspringen, wenn ich einmal, hingerissen, dieser übermenschlichen Melodie lauschte – ihrem Lebensverlangen und ihrer Daseinssehnsucht, die die Menschheit ähnlich bis dahin noch nicht gekannt hat.

Daß sie mich liebte, bezweifelte ich nicht, auch wußte ich genau, daß in einem solchen[281] Herzen die Liebe nicht wie eine gewöhnliche Leidenschaft thronen könne. Aber erst bei ihrem Tode empfand ich die ganze Macht ihrer Neigung. Manche Stunde lang, während ihre Hand in der meinen ruhte, goß sie die Überfülle ihres Herzens vor mir aus, des Herzens, dessen mehr als leidenschaftliche Liebe an göttliche Verehrung grenzte. Womit hatte ich die Seligkeit, solche Geständnisse zu hören, verdient? – womit die Verdammnis, die Geliebte in der Stunde, da ich sie vernahm, verlieren zu müssen? Doch hierüber zu reden, kann ich nicht ertragen. Ich will nur noch sagen, daß ich in der mehr als weiblichen Hingebung Ligeias an eine Liebe, die, ach! nicht verdient war, die sie ganz als Geschenk gewährte, endlich den Antrieb ihres ungezügelten Willens zu dem Dasein, das jetzt so schnell entfloh, entdeckte. Dieses uferlose Verlangen, diesen wilden Wunsch nach Leben – nur nach Leben! – zu beschreiben, habe ich nicht die Macht – hat die Sprache keine Worte!

Mitten in der Nacht, in der sie starb, rief sie mich an ihr Lager und ließ mich einige Verse sprechen, die sie wenige Tage vorher verfaßt hatte. Hier sind sie:


Seht! Diese Festesnacht!

In langer Jahre trübem Lauf!

Ein Engelchor, beschwingt, verhüllt,

und tränenüberströmt

sitzt in dem Schauspielhaus und lauscht

dem Spiel voll Hoffnung und voll Furcht

und das Orchester seufzt dazu

die Melodie der Sphären.
[282]

Schauspieler nach des höchsten Bild

murmeln und flüstern leis

und gehn nach rechts und gehn nach links;

nur Puppen sind's. Sie steh'n und wandeln

nach körperloser Wesen Wunsch,

die stets des Schauspiels Ort verändern.

Aus ihren Condorflügeln sinkt

unsichtbar Weh.


Buntscheckges Drama! – Nimmermehr

wird es vergessen werden!

nie sein Phantom, dem eine wilde Menge

seit Ewigkeit schon in den Kreis,

der selbst sich wieder in sich schließt,

nachjagt und es doch nie erreicht!

nie all die Torheit, all die Sünde,

der Schrecken nie, des Stückes Seele.


Doch sieh! ein kriechend Wesen schleicht

jetzt langsam auf die Menge zu –

von Blut gerötet wand es sich

aus meiner Höhle Einsamkeit.

Es naht! – Es naht! Zum Fraße raubt's

die angstzerquälten Spieler sich,

die Seraph' seufzen, da des Wurmes Zahn

des Menschen Leib benagt.


Die Lichter löschen alle – alle,

und über jede schauernde Gestalt

sinkt mit des Sturmes Macht

der Vorhang hin – ein endlos Leichentuch –

Die Engel, bleich und blaß,

erheben und entschleiern sich

und nennen dieses Drama ›Mensch,‹

und seinen Held den ›Sieger Wurm‹.


Als ich diese Verse beendet hatte, schrie Ligeia auf, sprang auf ihre Füße und reckte die Arme wie im Krampfe zum Himmel empor. »O Gott!«[283] rief sie aus, »o himmlischer Vater! Werden sich diese Dinge unabänderlich immer wieder erfüllen? – Wird dieser Sieger niemals besiegt werden? Sind wir nicht ein Teil, ein Hauch von Dir? Wer kennt die Geheimnisse des Willens und seine Macht? Lediglich aus Willensschwäche überliefert sich der Mensch dem Tode.«

Dann ließ sie, wie erschöpft von der Erregung, ihre weißen Arme sinken und begab sich feierlich auf ihr Todesbett. Und mit ihren letzten Zügen entrang sich ihren Lippen ein undeutliches Murmeln. Ich horchte hin und vernahm noch einmal den Schluß der Worte Glanvills: ›Nur aus Willensschwäche – überliefert sich der Mensch dem Tode.‹

Sie starb; und ich, vernichtet, schmerzzermalmt, konnte die qualvolle Einsamkeit meiner Wohnung in der verlassenen Stadt am Rhein nicht länger ertragen. Ich hatte keinen Mangel an dem, was die Welt Glücksgüter nennt. Ligeia hatte mir viel hinterlassen, – mehr als das Schicksal im allgemeinen den Sterblichen zuteilt. Nach einigen Monaten müden, ziellosen Umherirrens in der Welt erwarb ich mir in einem ganz unkultivierten, wenig besuchten Teile des schönen England eine Abtei, deren Namen ich nicht nennen will. Die finstere, traurige Großartigkeit des Gebäudes, der Anblick der fast wilden Landschaft, die melancholischen und ehrwürdigen Erinnerungen, die sich an den Ort knüpften, stimmten gut zu dem Gefühl gänzlicher Verlassenheit, das mich in diese einsame, entlegene Gegend getrieben hatte. Während ich an[284] dem fast unversehrten Äußern der Abtei keinerlei Änderung vornahm, entfaltete ich im Innern mit fast kindischer Krankhaftigkeit und vielleicht auch mit der schwachen Hoffnung, meine Gedanken etwas zu zerstreuen, eine mehr als königliche Pracht. Seit früher Kindheit hatte ich viel Geschmack an dergleichen Torheiten, jetzt tobte sich mein Schmerz in ihnen aus. Ach, ich weiß, man hätte einen Anfang von Wahnsinn in der Vorliebe für jene kostbaren phantasiereichen Draperien entdecken können – in dem Geschmack an feierlichen egyptischen Skulpturen, an bizarren Gesimsen und Möbeln, an den extravaganten Arabesken meiner golddurchwirkten Teppiche! Ich stand jetzt ganz unter der Herrschaft des Opiums, und alle meine Arbeiten und Pläne atmeten den Geist meiner Träume. Aber ich will nicht bei den Einzelheiten solcher Phantastereien verweilen. Nur von jenem auf ewig verfluchten Zimmer will ich noch sprechen, in das ich in einem Anfall von Wahnsinn die blonde, blauäugige Lady Rowena Trevanion von Tremaine als meine Gattin – als die Nachfolgerin der unvergeßlichen Ligeia – einführte.

Jede geringste Einzelheit in der Architektur oder der Ausschmückung des hochzeitlichen Gemaches steht mir noch klar vor Augen. Was dachte sich nur eigentlich die hochmütige Familie meiner Braut, als sie, von Goldgier gestachelt, ihrer geliebten Tochter gestattete, die Schwelle eines Zimmers zu überschreiten, das auf so seltsame Weise geschmückt war?[285]

Ich sagte schon, die Einrichtung des Gemaches ist mir bis ins kleinste vollständig gegenwärtig, obgleich mein trauriges Gedächtnis sehr oft Dinge von größerer Wichtigkeit nicht aufbewahrt hat. Und doch war in seiner phantastischen Pracht weder Harmonie noch ein System, das sich mir besonders hätte einprägen können. Das Zimmer lag in einem hohen Turm, welcher zu der wie eine Burg befestigten Abtei gehörte. Es war fünfeckig und äußerst geräumig. Die ganze südliche Seite des Fünfecks nahm ein großes Fenster ein, das aus einer einzigen riesigen venetianischen Scheibe von dunkler Farbe bestand, so daß die Sonnen- und Mondstrahlen, die hindurchfielen, nur ein trübes, geisterhaftes Licht auf die Gegenstände im Innern warfen. Die Decke aus fast schwarzem Eichenholz war außerordentlich hoch, gewölbt und von phantastischen, grotesken Ornamenten in halb gotischem, halb druidenhaftem Stil durchzogen. Aus der Mitte der melancholischen Wölbung hing an einer goldenen Ringkette eine große Lampe aus demselben Metall herab; sie erinnerte an ein Weihrauchfaß, war nach sarazenischem Geschmack gearbeitet und vielfach durchbrochen, so daß das Licht in Schlangenlinien durch das kapriziöse Goldgeflecht hervorkroch.

An verschiedenen Stellen waren kostbare Ottomanen und orientalische Kandelaber aufgestellt, und das Bett – das hochzeitliche Bett – war ebenfalls in indischem Stil gehalten, niedrig, aus massivem Ebenholz geschnitzt und von einem[286] dunklen Baldachin, der den Eindruck eines Leichentuches machte, überschattet. In den Winkeln des Zimmers erhoben sich mächtige Sarkophage; – man hatte sie in alten Königsgräbern gefunden – in ihre Deckel waren unvergängliche Zeichen eingegraben. Doch den phantastischsten Anblick bot die Bekleidung der Wände. Sie waren ganz unverhältnismäßig hoch und von oben bis unten mit schweren Tapisserien behangen, die aus demselben Stoffe bestanden, aus dem auch die Bezüge der Ottomanen und des Ebenholzbettes, der Betthimmel, der Teppich und die schweren Vorhänge, die einen Teil des Fensters verhüllten, hergestellt waren – einem reichen Goldstoff, in den in unregelmäßigen Zwischenräumen arabeskenhafte Figuren von ungefähr einem Fuß Durchmesser hineingewebt waren, die sich tief schwarz von dem goldenen Grunde abzeichneten. Aber diese Figuren hatten nur arabeskenhaften Charakter, wenn man sie von einem einzigen Punkte aus betrachtete. Durch ein heute allgemein bekanntes Ver fahren, dessen Spuren man jedoch bis ins fernste Altertum verfolgen kann, waren sie so geartet, daß sich ihr Äußeres veränderte. Trat jemand in das Zimmer ein, so erschienen sie ihm einfach als monströse Häßlichkeiten; ging er weiter vor, so verschwand die Starrheit nach und nach, und Schritt vor Schritt sah er sich von einer endlosen Prozession gräßlicher Wesen umgeben, wie sie der Aberglaube des Nordens erdacht oder wie sie in den sträflichen Träumen der Mönche erstehen mögen.[287] Dieser spukhafte Eindruck wurde noch erhöht durch einen starken, künstlichen Luftzug, den ich hinter die Wandbekleidung hatte einführen lassen, und der dem Ganzen eine schauderhafte, unruhige Lebendigkeit verlieh.

Dieses also war die Wohnung, dieses war das hochzeitliche Gemach, in dem ich mit der Lady Rowena die gottlosen Stunden des ersten Monates unserer Verheiratung verlebte – ohne zu viel Unruhe verlebte. Ich konnte mir nicht verhehlen, daß meine Frau sich vor meiner wilden Gemütsart fürchtete, daß sie mir auswich, daß sie mich nur sehr mäßig liebte – aber das freute mich fast. Ich haßte sie mit einem Hasse, der eher einem Dämon als einem Menschen zuzutrauen war. Alle meine Gedanken wandten sich – mit welch bohrendem Schmerz! – zu Ligeia zurück, zu der Geliebten, der Hohen, der Schönen, der Toten! Ich schwelgte in Erinnerungen an ihre Reinheit, ihre Weisheit, an ihr erhabenes himmlisches Wesen, an ihre leidensaftliche, anbetende Liebe. In meiner Seele brannten jetzt glühendere, verzehrendere Flammen als je in der ihren. In der Erregung meiner Opiumträume – ich war jetzt ganz und gar zum Sklaven des Giftes geworden – rief ich mit lauter Stimme ihren Namen durch das Schweigen der Nacht oder tags durch die einsamen Schattenwege des Tales, als könne ich sie durch die wilde Kraft, die feierliche Leidenschaft und die verzehrende Sehnsucht meiner Liebe wieder auf die Pfade des Lebens zurückrufen, die[288] sie verlassen – für immer? War es möglich, für immer?

Zu Anfang des zweiten Monats unserer Verheiratung wurde Lady Rowena von einer plötzlichen Krankheit angefallen, von der sie sich nur langsam erholte. Ein verzehrendes Fieber bereitete ihr schlaflose Nächte, und in der Unruhe des Halbschlummers sprach sie von Tönen und Bewegungen, die sie in dem Turmzimmer wahrnähme und die ich nur ihrer kranken Phantasie oder vielleicht dem spukhaften Äußern des Gemaches zuschreiben konnte. Nach längerer Zeit trat eine Besserung ein, und endlich schien sie ganz wiederhergestellt. Doch schon nach kurzen Wochen warf sie ein zweiter heftiger Anfall, von dem sich ihre schwache Konstitution nie mehr erholte, von neuem auf ihr Schmerzenslager. Seit dieser Zeit zeigte ihre Krankheit einen höchst beunruhigenden Charakter, und noch beunruhigendere Rückfälle machten die ganze Wissenschaft und alle Anstrengungen der Ärzte zunichte. In demselben Grade, in dem ihr Übel fortschritt, wuchs ihre nervöse Reizbarkeit. Die allergewöhnlichsten Gegenstände flößten ihr oft eine wilde Furcht ein, sie sprach immer häufiger und beharrlicher von leisen Geräuschen, von seltsamen Bewegungen der Vorhänge, die sie erschreckten, ängstigten.

Eines Nachts, gegen Ende September, machte sie mich mit außergewöhnlicher Erregung auf solch unheimliche Vorgänge aufmerksam. Sie war eben aus einem unruhigen Schlummer aufgefahren. Ich[289] saß am Kopfende des Ebenholzbettes auf einem indischen Divan und hatte das Mienenspiel ihres abgemagerten Gesichtes mit Besorgnis und vagem Schreck beobachtet. Sie richtete sich halb auf und sprach in angstvollem Flüstern von allerlei Tönen, die sie vernähme – ich hörte sie nicht – von Bewegungen, die sie bemerke und die ich nicht sah. Der Luftzug strich lebhaft hinter den Wandbekleidungen dahin, und ich bemühte mich, ihr begreiflich zu machen – ich muß gestehen, ich glaubte es selbst nicht ganz –, daß diese kaum hörbaren Seufzer, diese kaum vernehmbaren Veränderungen der Gestalten an der Wand nur die natürliche Wirkung des gewohnten Luftzuges seien. Aber eine tödliche Blässe, die über ihr Gesicht lief, sagte mir, daß alle meine Anstrengungen, sie zu beruhigen, fruchtlos sein würden. Sie schien in Ohnmacht zu sinken. Was war zu tun? Einen Dienstboten hatte ich nicht in der Nähe. Da entsann ich mich plötzlich, daß ich eine Flasche leichten Weines, den ihr die Ärzte einmal verschrieben, aufbewahrt hatte, und durchschritt schnell das Zimmer, um ihn zu holen. Aber gerade, als ich unter dem Licht der Lampe stand, erregten zwei sonderbare Umstände meine Aufmerksamkeit. Ich fühlte, daß irgend etwas Greifbares wiewohl Unsichtbares meine Gestalt leicht streifte, und sah auf dem goldfarbenen Teppich, gerade inmitten der reichen Strahlen, die das Weihrauchfaß entsandte, einen Schatten liegen – einen schwachen unbestimmten Schatten von engelhafter Schönheit – so zart, wie[290] man sich vielleicht den Schatten eines Schattens vorstellen kann. Aber da ich gerade an den Folgen einer übertrieben starken Dosis Opium litt, legte ich diesen Erscheinungen nur wenig Wichtigkeit bei und erwähnte sie Rowena gegenüber nicht.

Ich fand den Wein und durchschritt von neuem das Zimmer, füllte ein Trinkgefäß und näherte es den Lippen meiner halb ohnmächtigen Gattin. Sie schien sich jedoch ein wenig erholt zu haben und ergriff das Glas selbst, während ich mich, die Blicke besorgt auf sie gerichtet, wieder auf die Ottomane niederließ.

Da vernahm ich ganz deutlich leise Schritte in der Nähe des Bettes, und eine Sekunde später, als Rowena den Becher an ihre Lippen erhob, sah ich – ich mag es auch geträumt haben –, wie drei oder vier Tropfen einer glänzenden, rubinfarbenen Flüssigkeit, gleichsam aus einer unsichtbaren Quelle, die in der Luft des Zimmers zu entspringen schien, in den Wein fielen. Rowena bemerkte es jedenfalls nicht, denn sie trank ohne Zögern, und ich hütete mich wohl, ihr meine Beobachtung zu erzählen, die ja nur eine Vorspiegelung meiner Einbildungskraft sein konnte, deren krankhafte Tätigkeit durch das Opium, die späte Nachtstunde und die schreckhaften Worte meiner Frau aufs höchste gesteigert worden war.

Doch konnte ich mir nicht verbergen, daß sich in Rowenas Krankheit unmittelbar nach dem Fall der Rubintropfen eine Wendung zum Schlimmen vollzog. In der übernächsten Nacht bereiteten die,[291] Hände meiner Bedienten für sie das Grab, und in der dann folgenden saß ich allein in dem phantastischen Zimmer, das sie als Braut empfangen, neben ihrem in Totenschleier gehüllten Leichnam. Seltsame Visionen, die das Opium erzeugte, umschwebten mich wie Schatten. Mein unruhiger Blick schweifte über die Sarkophage, in die Ecken des Zimmers, über die bewegten Fratzen der Draperien und die schlangenförmigen Lichtstreifen der hängenden Lampe. Ich dachte an die Ereignisse jener kurz vergangenen Nacht, und meine Augen wandten sich dem glänzenden Lichtkreis zu, in dem ich den leichten Schatten bemerkt hatte. Jetzt war er nicht zu erkennen, – ich atmete tief auf und blickte auf die bleiche, starre Gestalt, die auf dem Bette ausgestreckt lag. Da fühlte ich, wie tausend Erinnerungen an Ligeia in mir hoch wogten, – tobend wie eine Meerflut stürzte der ganze unermeßliche Schmerz, den ich empfunden, als ich Sie im Leichentuch gesehen, über mein Herz. – Es wurde tiefe Nacht, und immer noch saß ich regungslos, die Blicke auf Rowena gerichtet, in Gedanken an Ligeia, die einzige, übermenschlich Geliebte.

Es mochte wohl Mitternacht sein, vielleicht etwas früher oder etwas später, ich hatte nicht auf die Zeit geachtet, als ein sehr leiser, sehr leichter, aber ganz deutlicher Seufzer mich aus meinen Träumereien auffahren ließ. Ich fühlte, er kam von dem Ebenholzbett, von dem Totenbett. Ich lauschte in abergläubischer Angst, aber[292] das Geräusch wiederholte sich nicht. Ich strengte meine Augen an, um irgendeine Bewegung in dem Leichnam zu entdecken, aber ich bemerkte nicht das geringste. Und doch konnte ich mich unmöglich getäuscht haben, – ich hatte das Geräusch deutlich gehört und war vollständig wach. Angestrengt und mit äußerster Spannung beobachtete ich den Körper, aber es verflossen mehrere Minuten ohne irgendein Ereignis, das Licht in dieses Geheimnis hätte bringen können. Nach einiger Zeit jedoch bemerkte ich, daß eine leichte, kaum sichtbare Färbung in die Wangen gestiegen war und sich die kleinen Adern der Augendeckel entlangzog. Grauen und Entsetzen packte mich, ich fühlte, wie mein Herz zu schlagen aufhörte und meine Glieder vor Schreck erstarrten.

Doch gab mir endlich mein Pflichtgefühl die Kaltblütigkeit zurück. Ich konnte nicht länger zweifeln, daß unsere Anstalten zum Leichenbegängnis verfrüht gewesen, – daß Rowena noch lebte. Wiederbelebungsversuche waren dringend geboten, doch war, wie gesagt, kein Dienstbote in der Nähe, da mein Turm von dem Teile der Abtei, den die Dienerschaft bewohnte, vollständig getrennt lag. Wollte ich jemanden herbeiholen, so mußte ich das Zimmer auf mehrere Minuten verlassen; und das durfte ich nicht wagen. Ich bemühte mich also allein, die entschwebende Seele zurückzurufen und zu halten. Aber nach einigen Sekunden trat ein offenbarer Rückfall ein, die Farbe verschwand aus den Wangen und Lidern,[293] sie wurde bleicher als Marmor, und die Lippen preßten sich mit verdoppelter Kraft aufeinander und nahmen wieder den gespenstisch zusammengeschrumpften Ausdruck des Todes an; eine grauenhafte Kälte und Feuchtigkeit verbreitete sich bald über die ganze Oberfläche des Körpers, vollständige Leichenstarre trat ein. Ich sank schaudernd auf mein Ruhebett, von dem ich so angstvoll aufgeschreckt worden, zurück und überließ mich aufs neue meinem leidenschaftlichen Gedenken an Ligeia.

So verfloß eine Stunde, als ich – großer Gott, wie war es nur möglich – von neuem ein verwehendes Geräusch vom Bette her vernahm. In maßlosem Entsetzen horchte ich wieder hin und hörte den Ton zum zweitenmal, – es war ein Seufzer. Ich eilte auf den Leichnam zu und sah – sah deutlich –, daß seine Lippen zitterten. Eine Minute später teilten sie sich und entblößten eine glänzende Reihe perlmutterner Zähne. Ein grenzenloses Erstaunen kämpfte in meinem Geiste mit einem maßlosen Schreck. Ich fühlte meinen Blick sich verdunkeln und mein Bewußtsein schwinden, und nur durch eine gewaltige Willensanstrengung gelang es mir, mich zum Handeln aufzuraffen. Stirn, Wangen und Hals Rowenas zeigten eine schwache Lebensfarbe, eine fühlbare Wärme durchdrang den ganzen Körper, und in der Herzgegend machte sich ein leiser Pulsschlag bemerkbar. Sie lebte! und mit verdoppeltem Eifer versuchte ich durch jedes Mittel, das mich die Erfahrung[294] und meine ausgedehnte Lektüre medizinischer Schriften gelehrt, sie zum Bewußtsein zu bringen. Plötzlich jedoch verschwand die Farbe wieder, der Puls stand still, die Lippen preßten sich wie im Todeskrampf aufeinander, und ein paar Sekunden später war der Körper eiskalt, feucht, leichenfarben und starr und zeigte all die grauenhaften Merkmale eines Leichnams, der schon seit Tagen das Grab bewohnt.

Und wieder versank ich in Träume, träumte von Ligeia – und von neuem ... ist es verwunderlich, daß ich zittere, da ich dieses schreibe? ... von neuem tönte ein erstickter Seufzer vom Bett her an mein Ohr. Doch wozu soll ich die unbeschreiblichen Gräßlichkeiten dieser Nacht aufzählen? Wozu soll ich erzählen, wie oft sich bis zur Dämmerung dieses grauenvolle Schauspiel des Wiederauferstehens erneute; wie jeder der erschreckenden Rückfälle einen starreren, tieferen Tod zur Folge hatte; daß jedem neuen Todeskampf ein neuer, grausigerer Verfall des Körpers folgte? Ich beeile mich, zum Ende zu kommen.

Der größte Teil der Schreckensnacht war vergangen, und die, die tot war, bewegte sich wieder einmal, und zwar jäher, heftiger denn zuvor. Ich hatte schon seit langem jeden Versuch, ihr zu helfen, aufgegeben und blieb wie gebannt auf meiner Ottomane sitzen, von einem Wirbelsturm qualvollen Entsetzens gefaßt. Der Körper bewegte sich wieder – mit seltsamer Schnelle schoß Farbe in das Antlitz, die Starre der Glieder löste sich,[295] und wären die Totenbinden und Leichentücher nicht gewesen, ich hätte geglaubt, daß Rowena zum Leben erwacht sei. Und nun mußte auch mein letzter Zweifel schwinden, als das leichentuch umhüllte Wesen sich vom Bett erhob – und schwankend, mit schwachen Schritten, mit geschlossenen Augen, wie jemand, der im Schlafe wandelt – aber gerade und entschlossen – in die Mitte des Zimmers schritt.

Ich zitterte nicht, – ich rührte mich nicht, – denn eine Flut unausdenkbarer Gedanken, die das Aussehen, die Gestalt und der Gang des Phantoms in mir erweckten, stürzte über mich. Eine wahnsinnige Verwirrung, ein nicht zu bändigender Tumult rang in meinem Hirne. War das die lebendige Rowena, die ich da sah? War es Rowena überhaupt – die blondhaarige, blauäugige Lady Rowena Trevanion von Tremaine? Weshalb, ja, weshalb zweifelte ich daran? Eine schwere Binde verhüllte ihren Mund – weshalb sollte das nicht der Mund der Lady von Tremaine sein? Und die Wangen? Ja, sicher waren es die Rosenwangen Rowenas. Und das Kinn, mit den Grübchen voll Gesundheit, sollte es nicht das ihre sein? – aber, war sie denn während ihrer Krankheit gewachsen? Wie Wahnsinn durchschoß es, mich bei diesem Gedanken. Mit einem Sprung lag ich zu ihren Füßen. Sie wich meiner Berührung aus und befreite ihr Haupt aus dem entsetzlichen Leichentuch, und in die schauernde Atmosphäre des Zimmers strömte eine üppige Fülle langer[296] ungeordneter Haare – sie waren schwärzer als die Rabenflügel der Mitternacht. Und dann sah ich, wie sich langsam die Augen in dem Antlitz öffneten.

»Endlich! da sind sie!« rief ich laut. »Wie sollte ich sie nicht erkennen, die großen, schwarzen, seltsamen Augen meiner verlorenen Liebe – die Augen der Lady – der Lady Ligeia?«[297]

Quelle:
Edgar Allan Poes Werke. Gesamtausgabe der Dichtungen und Erzählungen, Band 6: Scherz- und Spottgeschichten. Herausgegeben von Theodor Etzel, Berlin: Propyläen-Verlag, [1922], S. 272-298.
Zuerst veröffentlicht in: »American Museum«, September 1838.
Lizenz:
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Ligeia
ligeia / λίγεια

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