Nr. 101. Der Rotbart und andere deutsche Kaiser im Brunnen auf dem Burgberge.

[63] Im Burgbrunnen auf der Harzburg fährt es oft wie mit Kutschen umher und rauscht gewaltig. Einige sagen, als Kaiser Heinrich IV. vor den Sachsen geflohen sei, habe er die Krone in den Burgbrunnen geworfen und die sei noch darin. Andere sagen, es sei ein Kaisersarg in dem Brunnen, und andere, ein Kaiser sei in den Brunnen verwünscht. Den Kindern sagen die Mütter, sie sollten nicht zu dem Brunnen gehen, weil Kaiser Rotbart darinnen säße. Daß die weiße Jungfer darinnen sei, weiß in Harzburg jedermann. Einstmals ist ein Verbrecher namens Schöppenstedt in dem Brunnen heruntergelassen worden, dem hat sollen das Leben geschenkt sein, wenn er glücklich aus einem Gange wieder herauskäme, der von dem Brunnen ausgehen soll. Als nun Schöppenstedt in dem Brunnen ist, kommt er an eine eiserne Thür, die thut sich auf und da steht die weiße Jungfer vor ihm und sagt: das sei sein Glück, daß er nicht aus Mutwillen hierher käme. Sie hat ihn nun in dem Gange entlang geführet und hat ihm soviel Geld gewiesen und gesagt: »wenn't bronswieksche Land mal pankerott wörre, soll dat wedder davon herestellt weren.« Dann sind sie auch in eine Höhle gekommen, darin hat eine Tafel gestanden. Und was nun die Kaiser gewesen sind, Kaiser Otto, Kaiser Heinrich und der Rotbart, die haben alle an der Tafel gesessen und haben Speisen vor sich stehen gehabt, und dem einen Kaiser ist der Bart durch die Tafel gewachsen, und in der Höhle sind große Schätze gewesen an Kleinodien und Geschirr, zumal an Krügen und Kelchen, das hat ausgesehen wie Holz, ist aber Silber und Gold gewesen. Auch viele Pferde haben da herumgestanden, die hatten statt des Futters Dornenwasen auf der Hille (Raufe) und schienen von der Hille zu fressen, es ist aber nur zum Schein gewesen. Zuletzt ist Schöppenstedt an dem jetzt sogenannten Schöppenstedtergrund wieder herausgekommen, an einer Stelle, die durch einen Kieserling bedeckt sein soll. Auf diesem Gange soll auch Kaiser Heinrich IV. zu seinen Lebzeiten heimlich aus der Burg vor den Sachsen entwichen sein.

Quelle:
Heinrich Pröhle: Harzsagen, zum Teil in der Mundart der Gebirgsbewohner. Leipzig 21886, S. 63-64.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Harzsagen
Harzsagen - Sagen des Oberharzes 1859 - Band 1 (von 2)
Harzsagen - Sagen des Unterharzes 1859 - Band 2 (von 2)