Nr. 156. Die Springwurzel.

[144] Vor vielen Jahren gab es eine wunderbare Blume, die Springwurzel oder auch Johanniswurzel genannt wurde. Sie war aber ebenso selten als wunderbar. Sie blühete nur in der Johannisnacht (einige sagen: unter dem Farrenkraute) zwischen elf und zwölf Uhr; mit dem zwölften Glockenschlage war sie verschwunden. Nur in waldigen Gegenden, wo viele edle Metalle im Schoße der Erde ruheten, wurde sie dann und wann in dieser Nacht auf einsamen Bergwiesen gesehen. Die Berggeister wollten durch sie den Menschen zeigen, wo ihre Schätze zu finden wären. Die Blume selbst war gelb und leuchtete in der Nacht wie ein Licht. Sie stand niemals still, sondern hüpfte beständig hin und her. Auch fürchtete sie die Menschen, denn sie floh vor ihnen und keiner hat sie jemals gebrochen, es sei denn, daß er von der Vorsehung ausdrücklich dazu bestimmt gewesen wäre. Wer so glücklich war, sie zu pflücken, dem zeigte sie alle Schätze der Erde und machte ihn dadurch reich, sehr reich und glücklich.

Auf Klausthal ist ein Mann gewesen, der hat gehöret, daß in der Johannisnacht um zwölf die Springwurzel geholet werden könne, vor der alle Schlösser aufspringen müssen. So gehet denn dieser Mann, der Stopp geheißen hat, dahin, wo jetzt vor Klausthal die Scheibenschanze stehet und eine Wiese ist. Da standen damals Farren, und wie er dahin kam, sah er die Johanniswurzeln, die in der Johannisnacht blüheten. Zur Vorsicht hatte er sich ein großes Schloß ans Bein gebunden, und so ging er vorsichtig zwischen den Johannisblumen herum mit dem Schloß am Bein. Da kam ein großer Kerl unter die Wurzeln, reden that er nichts, der schlug ihm sein Bein durch seine Beine und schlürte ihn so über den[144] Farren mit dem Schlosse hin und her, bis es zwölf schlug. Da warf er ihn eine Ecke Wegs hin auf den Erdboden, und er lag ohne Besinnung eine Stunde lang, und wie er da aufwachte, lief er nach Hause, und das Schloß mit dem langen Stricke hat er vergessen abzulösen. Und wie das Schloß nun beim Laufen klapperte, meinete er, der große Kerl sitze hinter ihm. Da lief er immer mehr und das Schloß zerschlug ihm die Beine, und so stürzete er damit in die Stube, und die Leute, die noch aufgewesen sind und auf ihn gewartet haben, wußten nicht, was sie dazu denken sollten und was ihm fehle. Sie fragten hin und her, er konnte aber nicht sprechen. Sie kleideten ihn aus, da war alles an ihm allheil (ganz) schwarz, wo ihn der große Kerl, der der Teufel gewesen ist, hin und her geschleudert hatte. Am anderen Morgen brachte er einige Worte hervor und verzählte, was mit ihm geschehen war. Den Mittag aber war er schon tot.

Quelle:
Heinrich Pröhle: Harzsagen, zum Teil in der Mundart der Gebirgsbewohner. Leipzig 21886, S. 144-145.
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