2. Characteristische Schilderung

[166] Die bildende Natur, die Mutter aller Schönheit,

Hatt' in dem Körper selbst ihr Wesen abgedruckt.

Die Jugend grünte noch auf allen ihren Gliedern,

Durch ihre frische Zier war jeder Theil belebt,

Ihr rundes Antlitz schloß in seinem weissen Kreise

Der Anmuth Reichthum ein. Auf ihrer freyen Stirn,

Die immer heiter blieb, stand Redlichkeit und Treue

Im reinsten Glanz gemahlt. Der Augen holdes Paar

Warf seine Strahlen nicht zu stark, auch nicht zu milde,

Und furchtsam abgeschmackt. Ein jeder freyer Blick

Schien stets von jedem Trieb des Herzens sanft zu reden,

War gegen die von Lieb' und sonst von Güte reich.

Der Unschuld reines Feld, die Wangen wurden nimmer

Von eigenem Versehn, nein, nur von andern roth.

Und eh ihr Mund noch sprach, verrieth sein holdes Regen

Was schon ihr Geist bedacht, und jede Red erhielt[166]

Von der Geberden Reiz noch eine grössre Anmuth.

Sie sprach, man ward bewegt; Sie schwieg und sie gefiel,

Und niemals durfte sie ein Wort zurücke wünschen.

Ihr Leib war wohlgesezt, und einer Frau gemäß,

Nicht, wider die Natur, zu enge eingepresset,

Die angenehme Art die stets ihr Thun beseelt,

Gab jeden Reizungen ein zierliches Geschicke

Und alles war demnach natürlich ohne Zwang.

Quelle:
Freundschaftliche Lieder von I. J. Pyra und S. G. Lange, Heilbronn 1885, S. 166-167.
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