Zweiunddreißigstes Kapitel

Ein Ritt vom Stillen Ozean zum Missouri; Konrad von Faber hält abermals eine Rede

[685] Sie fanden eine vollständig veränderte Stadt. Eine große Feuersbrunst hatte einen bedeutenden Teil der leichten Bauwerke, Hütten und Zelte verzehrt; andere Straßen, andere Hütten waren auf der Brandstätte entstanden. Tausende und aber Tausende neuer Einwohner waren gekommen; es kostete viel Mühe, ehe die Familie Tellering in dem Gewimmel gefunden war, und der Zufall mußte beim Auffinden derselben das Beste tun. Bis an die Zähne bewaffnet, als eifriges Mitglied des Vigilancekomitees begegnete Meister Ludwig den beiden Reisegenossen auf der Plaza und sprang mit lautem Freudenruf ihnen entgegen. Die wichtigsten Erlebnisse tauschten sie gleich auf der Straße aus; ach, was Robert Wolf zu sagen hatte, ließ sich zuerst durch einen Seufzer, einen Blick ausdrücken und durch einen stummen Händedruck Ludwigs beantworten.

»Komm zu meiner Frau! O komm sogleich zu Marie«, rief der junge Meister dann und eilte den beiden voran, den Weg zeigend.

»Die ganze Stadt scheint ja unter Waffen zu sein. Was ist denn los, Tellering?« fragte der Hauptmann.

»Wir sind in einem neuen Lande«, sagte Ludwig achselzuckend. »Viel Menschen und etwas zuwenig von dem, was wir daheim zuviel haben, Polizeigesetz! Man sucht sich eben seiner Haut zu wehren, jeder steht Wache vor seiner Tür, und die Einsichtigen vereinigen sich zur gemeinschaftlichen Abwehr von[685] Willkür und Raubsucht. Doch da sind wir, und da ist Marie mit dem Jungen, und da ist die Alte!«

Es ist ein eigenes trübes, wehmütiges Gefühl, selber heimatlos in einem wohlgegründeten, wohlbeschützten Heimwesen freundlich, herzlich empfangen zu werden. Robert Wolf empfand das recht, als ihm Marie Tellering mit ihrem Kinde auf dem Arm entgegeneilte, als ihm die Mutter Anna abermals treuherzig die Hand drückte.

Weinend ließ sich die kleine Frau des Freundes vom Ende ihrer einstigen Herrin erzählen und wollte sich anfangs auf keine Weise zufriedensprechen lassen.

»O wer hätte das gedacht, wenn wir sonst nach dem Theater spät zusammensaßen in der Lilienstraße und von der Zukunft sprachen! Und ich habe sie verlassen müssen in ihrer höchsten Not, und sie hat mich doch aufgenommen, als ich freundlos und hungrig war. Sie hätte mich nicht verlassen – ach, es war schlecht, schlecht, schlecht von mir – ach, hätt ich es nur anders machen können!«

»Sie haben getan, was Sie konnten!« rief Robert. »Gott segne Sie dafür. Sie haben sich keinen Vorwurf zu machen und dürfen sich Ihr Glück nicht durch solche Gedanken verbittern.«

»Ich konnte ja auch nicht anders, nicht wahr, du kleines Herz?« schluchzte die junge Mutter, ihr Kind küssend und aus tiefster Bekümmernis zum hellsten Jubel übergehend. »Da sehen Sie ihn, Robert, sehen Sie ihn, Herr Hauptmann, ist es nicht ein Liebling? Und er hat seines Vaters Augen und ganz seine Nase, obgleich Ludwig es nicht zugeben will. Ach, ich habe ihr nicht helfen können, und sie hat ohne mich in der Wildnis liegen und sterben müssen. Herr Wolf, wie oft wache ich auf in der Nacht und denke, sie hat mich gerufen; – wenn ich die Wiege nicht neben meinem Bette hätte, ich müßte mich totweinen vor Kummer und Schmerz. O nicht wahr, es ist nicht meine Schuld, daß ich sie verlassen mußte?«

Immer von neuem mußte Robert, mußten Ludwig und die Mutter der bekümmerten kleinen Frau wiederholen, daß es nicht ihre Schuld sei, wenn die arme Eva Wolf auf ihrem Sterbebette[686] in der Wildnis von Yuba-County nicht von ihr gepflegt wurde.

Noch einige Tage brachten Konrad von Faber und Robert im Hause der wackern Freunde zu; dann waren die Geschäfte besorgt, daß Gold umgesetzt und alles bereit zu dem langen beschwerlichen Ritt nach Missouri. Vergeblich hatten sie auf der Post nach Briefen gefragt; keiner der Dampfer, die in das Goldene Tor eingelaufen waren, hatte Nachricht von den Freunden in Europa gebracht.

Nun noch eine betrübte Abschiedsstunde; aber auch sie ging vorüber! Tausend ausgesprochene und unausgesprochene Grüße an die alte Heimat jenseits der großen Wüsten und Wasser trugen die beiden Wanderer mit von dannen.

Auf Nimmerwiedersehen sagten sich die beiden Freunde aus der Musikantengasse jetzt Lebewohl; aber auch sie hatten sich gegenseitig von ihrem Wesen so viel mitgeteilt, daß sie doch immer unauflöslich miteinander verbunden waren. –

Am letzten April befanden sich die beiden Reisenden in Placerville, welches damals noch Old Hangtown hieß. Bergauf und bergunter hinab in die Ebenen zum Carsonfluß. Da ist Ragtown, die Lumpenstadt, deren Häuser aus den zerbrochenen Wagen und zerfetzten Wagendecken der Emigranten bestehen. Schrecklich deutlich ist der Weg über die Wüste vorgezeichnet. Knochen von Pferden und Lasttieren, Gräber, umgestürzte Karren, zerbrochene Ochsenjoche und Wagenräder, zertrümmertes Gerät bezeichnen den Pfad, auf welchem der Strom der Abenteurer in das Goldland hineinflutet. »Foot and Walker's Line« nennt der Hauptmann ingrimmig und ironisch diesen Pfad, als er schwitzend unter der glühenden Sonne seinen Gaul am Zügel durch den Alkalistaub am Humboldtfluß nach sich zieht. Noch ist die Wüste menschenleer, denn es ist noch früh im Jahre, und die kommenden Emigrantenzüge haben die regennassen Prärien von Iowa und Missouri noch nicht passiert. So sind denn Wolf und Geier die einzigen lebenden Wesen, die den zwei Reitern in der Einöde begegnen. Wieder folgen große Wiesen auf den dürren Sand – herrliche Jagdgründe, wo Konrad von[687] Faber und Robert eine lange Rast halten und wo der Hauptmann dem jungen Schützen aus dem Winzelwalde zeigt, wie man den Büffel jagt. Vorwärts, vorwärts – seltsame Felsenkolosse erheben sich am Horizont; gleich einer zerstörten Stadt der Riesen steigt Castle-Rock vor den Wanderern auf. –

Am vierten Juli stieg mitten in der Prärie Konrad von Faber vom Pferde, kniete nieder und legte das Ohr auf den Boden; dann forderte er den Begleiter auf, dasselbe zu tun. Ein dumpfer Hall aus unendlicher Ferne schien sich unter der Erde fortzupflanzen bis zu den beiden Lauschern.

»Es ist die Kanonade von Fort Laramie«, sagte der Hauptmann. »Sie feiern den großen Festtag der Union. Ab eo libertas, a quo spiritus; – der Spiritus scheint nur leider allmählich auszugehen, und wer kann sagen, wie bald der Tag kommt, wo der Siegelring Jeffersons mit der schönen Inschrift auseinanderbricht? Ich rechne, die Berliner Hegelianer, welche in der großen Republik die höchste Blüte der staatlichen Entwicklung sehen und die hier zu einem so schönen Abschluß ihres Systems gekommen sind, werden sich demnächst – im Laufe der nächsten zehn oder fünfzehn Jahre vielleicht – nicht wenig wundern. Es knackt ganz bedenklich in den Sparren des Daches, welches die Herren Professoren auf das Gebäude ihrer Philosophie der Geschichte gesetzt haben. Wenn ihnen nur nicht der Giebel über Nacht auf die gelehrten Köpfe fällt!«

»Aber auch Sie meinten doch an den Gräbern meines Bruders und meiner Schwester, daß der Abschluß und das Ziel der Weltgeschichte auf dieser Seite des Erdballs liege, daß hier die Zivilisation ihren Kreislauf vollendet habe?!«

»Ich halte auch noch daran«, antwortete Faber. »Aber schwer ist die Arbeit der Selbstbefreiung der Menschheit. Wenn die unorganische Welt Millionen von Platonischen Jahren nötig hatte, um sich zu entwickeln, wie lange Zeit wird der Mensch als Gesamtheit brauchen, um das letzte Ziel zu erreichen? Weder nach der Juden noch nach Usserii Rechnung sind mehr als sechstausend Jahre verflossen, seit Gott dem einzelnen Erdenkloß seinen Atem einblies. Das ist eine kurze Zeit, Herr, und[688] ich meine, der Spruch: Der gab die Freiheit, welcher den Hauch des Lebens gab, wird noch lange, lange nur für den einzelnen und nicht für die Gesamtheit gelten. Das Individuum freilich – Ihr, ich, der Mann in der Polizeistube, der Sternseher Heinrich Ulex –, das Individuum mag in diesem Wort alle irdischen Ketten von Hand und Fuß abstreifen: Ab eo libertas, a quo spiritus! Zu Pferd, zu Pferde, Mann; noch für unberechenbare Zeit liegt mehr Bedeutung in dem Studium der Fortpflanzung des Schalles am Boden als in der Frage nach der rechtlichen Ursache, mit welcher die Besatzung von Laramie ihre Kanonen losbrennt und sich in Regierungswhisky betrinkt.«

Sie ritten weiter und rasteten einige Tage in dem Fort Onkel Sams. Sie ritten weiter und lagen noch manche Nacht einsam an einem Feuer von »buffalo-chips«. Sie ritten über die Platte, erreichten die hohe Säule Chimneyrock, den Wegweiser nach Kalifornien. Bei Courthouserock inmitten blumiger Prärien trafen sie auf den ersten ihnen entgegenkommenden Emigrantenzug. Reiter und Wagen; Männer, Weiber, Kinder durcheinander, wälzte es sich ihnen entgegen aus dem Osten, einer Völkerwanderung im kleinen gleich.

Manch eine hastige Frage nach dem Wege, nach den streifenden Indianerhorden wurde von ängstlichen Frauen und hagern, sonngebräunten Männern an die beiden Wanderer gerichtet. Sie gaben nach Möglichkeit Bericht, und ernst und traurig sah Robert Wolf, an den Sattel seines Pferdes gelehnt, den müden, bestaubten, goldgierigen Menschenknäuel an sich vorüberziehen.

»Ab eo libertas, a quo spiritus!« murmelte er. »Ja, es ist eine schreckliche Wahrheit: gegeben wird uns das Leben; aber es zu erhalten ist unsere Sache. Ist es ein Wunder, wenn uns über dem grimmigen Kampf um die Existenz die Freiheit verlorengeht? Da werden sie hingewirbelt von Not und Sorge, vom Sturm der Leidenschaften. Wie wenige sind stark genug, sich dem Wirbel zu entziehen! Der Staub, den ihre Füße aufregen, blendet ihre Augen und zieht sie zu Boden. Wehe, wie wenige erkennen durch den Dunst und Nebel die hohen Sterne, die auf ihren Weg leuchten!«[689]

Sie stießen noch auf manchen ähnlichen Abenteurerzug und auf manches frisch am Wege aufgeworfene Grab, ehe sie die Wälder, die deutschen Ansiedlungen am Missouri erreichten. Eine lange Zeit ritten sie mit einem Geschwader Pawneekrieger, die dem Grabe eines verehrten Häuptlings einen Besuch abgestattet hatten und welche jetzt nach ihren Jagdgründen heimzogen. Wie ein traumhaftes Wunder erschien es Robert, als er einige Tage später an der Seite des Hauptmanns in ein vollkommen deutsches Dorf hineinritt und am Abend im Wirtshaus deutsche Bauermädchen und Bauerbursche nach deutschen Tanzweisen sich drehen sah. Im Drachen zu Hickorihausen in Missouri ging's eben nicht anders zu als im Drachen zu Poppenhagen im Winzelwalde, und der Hauptmann von Faber lehnte die Büchse in die Ecke, ließ sich höchst behaglich zwischen einer Gruppe mächtig schmauchender Altväter und Leibzüchter nieder, schlug seinen Reisegenossen auf die Schulter und rief:

»Nun, mein Junge, das Schlimmste haben wir hinter uns. Wenn sie uns nicht mit einem ihrer satanischen Missouri- und Mississippidampfer in die Luft fliegen lassen, so haben wir gegründete Aussicht, gesund und nicht dümmer in New Orleans anzukommen.« –

Als die beiden Reisenden nach einigen Tagen auf dem Dampfboot Ellen Chittenden stromab den Missouri fuhren und vom Verdeck auf die gelben tanzenden Wogen hinabblickten, sagte der Hauptmann plötzlich ohne alle Veranlassung:

»Hören Sie, Wolf; das Schicksal hat doch eigentlich mancherlei Erziehungsexperimente mit Ihnen angestellt. Aus einer Hand sind Sie in die andere, aus einer Schule in die andere gegangen. Als der reine Rousseausche Naturmensch kriecht Ihr anfangs, sozusagen auf allen vieren, um Eures Vaters Hütte im Winzelwalde herum, ein höchst gesundes, schmutziges, unschuldig Geschöpf. Selbst als das kriechende Ding sich von den Händen aufgerichtet hat und auf den Füßen nach Poppenhagen in die Studierstube des Pastors Tanne hinuntersteigt, ist für es noch wenig Aussicht vorhanden, irgendwo anders als auf dem Kirchhof zu Poppenhagen, mit der alten Grabrede: Er lebte, nahm[690] ein Weib und starb, begraben zu werden. Aber durch das Weib ist nicht nur der Tod, sondern auch das Wissen in die Welt gekommen. Eva Dornbluth schreitet glänzend durch den Gesichtskreis des Knaben und über den Gesichtskreis desselben hinaus. Er muß ihr folgen; es versinkt der Winzelwald mit dem Dorf Poppenhagen; – die erste Schule liegt hinter dem jungen Weltbürger, er hat den Becher der Erkenntnis an die Lippen gesetzt, er hat die Rudimente des Lateins gelernt, er hat jene Leidenschaft, welche die Welt erobert, kennengelernt. Jetzt steht er auf der Schwelle eines neuen Daseins; Abgründe drohen zu beiden Seiten, vor sich hat er ein Gewirr von Verhältnissen und Gestalten, die ihm vollständig fremd sind. Ihm schwindelt, und der Zorn – auch eine Leidenschaft, welche den Menschen vorwärtsbringt, bald zum Guten, bald zum Bösen –, der Zorn, der Haß schüttelt den Machtlosen, der diese unbekannte Welt mit den Fäusten, den Zähnen zerreißen möchte, weil er sie mit Herz und Hirn nicht fassen kann. Verloren ist der Schüler, wenn die Sterne nicht Hülfe senden; – sie senden sie im rechten Augenblick. Von seinem Dreibein im Polizeibüro steigt nüchtern, lächelnd Polizeischreiber Fiebiger herab und faßt die drohend erhobene Faust des jungen Wilden und zieht ihn in das unbekannte Gewühl hinein. Die Gespenster weichen, die drohenden Schatten verflüchtigen sich, wenn man ihnen mutig näher tritt; in geregelte Gruppen ordnet sich, was nur ein wirres Durcheinander schien. Kein besserer Führer durch die reale Welt als der humoristische Buchhalter im Büro Nummer dreizehn im Zentralpolizeihaus! Aber der Schüler des Lebens hat in dieser Epoche noch andere Lehrer nötig, und sie sind zur Hand. Die Sterne sorgen dafür, daß Robert Wolf inmitten der Welt des Realismus ihrer nicht vergesse. Auf dem Giebel des Nikolaiklosters sitzt Henricus Ulex aus Poppenhagen, den Lärm der Gassen tief zu seinen Füßen. Aus seiner Höhe winkt der Mann des Ideals, und empor steigt Robert Wolf; es ist eine hohe, edle Schule, in welche er genommen wird, und nur wenigen begünstigten Staubgeborenen wird ein solches Glück vom Schicksal verliehen. Abermals tritt das Weib in den Entwicklungsgang des[691] Schülers ein; aber diesmal in anderer Gestalt, auf andere Weise. Nicht mehr als das glänzende, stolze, heldenhafte, nicht die Ausnahme von der Regel, erscheint es, sondern als die Regel selbst. Leisen Schrittes, still, sanft, geduldig und doch stark, wo es stark sein darf und muß, kommt es; und wieder bringt es für den Schüler den Kampf mit sich, nach uralter Bestimmung seit Erschaffung der Welt. Aber es ist nun nicht mehr ein Kampf mit unbekannten Gewalten; Robert Wolf kennt die dunkeln Kräfte, die sich gegen ihn bewegen, sehr gut. Der Mann aus den Gassen, Friedrich Fiebiger, hat ja seine Register vor ihm aufgeschlagen und ihm den Menschen, die Gesellschaft gedeutet, wie sie sind. Aber Friedrich Fiebiger weiß deshalb doch nicht, auf welche Weise die andrängenden bösen Mächte zu bezwingen sind; sein ironisches Lachen und das Polizeistrafgesetzbuch reichen dazu nicht aus. Der Idealist, der über den Gassen in der Höhe sitzt, kann aber nur den alten Wahlspruch der Stoiker wiederholen: Sustine et abstine, dulde und entsage. Trotz aller Lehrer, trotz aller Schulen steht der Mensch zuletzt doch immer allein seinem Schicksal gegenüber, und er allein hat mit seiner Persönlichkeit Antwort zu geben. Auch die härteste Schule soll dem Jungen aus dem Winzelwalde nicht erspart bleiben; das eigene Glück, das Glück des kleinen Mädchens sieht er zerstört; aber wieder treten die Sterne zur rechten Stunde für ihn ein. Wie das Weib am besten in der Stille und Einsamkeit das Unglück, den Schmerz überwindet, so besiegt der Mann sie am leichtesten, wenn er streitgerüstet sich in allen Lärm und Aufruhr der Welt hineinstürzt. Aber mit dem besten Willen vermag der Mensch sehr oft das nicht; von tausend Banden wird er auf dem Marterstuhl festgehalten; er klebt fest im Pech. Für Robert Wolf sorgen die Sterne besser; wieder schleudern sie ihn hinaus ins Weite, in feurigen Lettern wird ihm die große Lehre von der Nichtigkeit aller irdischen Hoffnungen, aber auch von der Nichtigkeit aller irdischen Sorgen ins Herz gebrannt. Der weite Spielraum, der den Menschen für ihre Wünsche gegeben ist, wird ihm gezeigt im Schweifen über Land und Meer; Nationen sieht er auf dem Marsche; in tausendfältigen Variationen umrauscht[692] ihn die alte Weise vom glückseligen Land Utopia, welches jeder einzelne, jedes Volk in seiner Weise sucht und welches niemand unter den Sternen findet. Wie die Hochherzigsten im vergeblichen Streben und Ringen untergehen, lernt der Schüler an den Gräbern des Bruders und der Schwester; und wenn er dann den Kopf nicht kläglich sinken läßt; wenn er die Sterne dann nicht im ohnmächtigen Trotz anklagt; wenn er dann nicht zappelnd sich gegen das allgemeine Los wehrt; wenn er dann den Sternen auch über die Gräber hinaus glauben kann: dann – ist die Erziehung vollendet, und er mag heimgehen, sein Doktorexamen machen und den Leuten zeigen, daß er was gelernt hat.«

Mit komischem Achselzucken hatte Konrad von Faber seine Rede begonnen, mit hohem Pathos schloß er sie, indem er die ausgegangene Zigarre einem aus dem Fluß auftauchenden Alligator in den Rachen warf.

»Vollendet ist die Erziehung des Knaben aus dem Walde«, sprach Robert Wolf.

»Und gut, rechne ich«, meinte der Hauptmann. »Wer kann sagen, wie die Sterne die andern führten, während wir am Yuba uralte Wahrheiten mit Hülfe von Hacke und Schaufel studierten und edles Gold in Gräbern fanden! Die Götter halten uns nicht allein im Auge, mein lieber Junge. Jedermann hat ein Recht auf ihre Fürsorge und Berücksichtigung, Herr Leon von Poppen nicht weniger als Herr Robert Wolf aus Poppenhagen!«

Quelle:
Wilhelm Raabe: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 1964–1966, S. 685-693.
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