Viertes Kapitel

[280] Wie war es nur vorhin gewesen drunten im gesellschaftlichen Lärm eine Treppe tiefer, bei Runne & Plate im Hause? Was hatte dort dem beliebtesten, feinsinnigen öffentlichen Erzähler, Hofrat Brokenkorb, zuerst den Abend verdorben und ihn geistig verstimmt, körperlich angegriffen in die Stille seiner eigenen Häuslichkeit hinaufgesendet?

Ein Nichts! Ein helles, fröhliches Mädchenlachen, ein Lichtschein, der auf ein blondes Haar und eine zierliche Schulter fiel. Ein rascher, erschreckter Blick über die eigene Schulter nach der Richtung hin, aus welcher das lustige Gekicher im Gewirr und Gesumm der Gäste zu ihm herüberdrang. Wahrlich ein Nichts eine Einbildung, ein Scheinzauber, der Schatten eines Schattens[280] von Dingen, wie man sie eben im Traum sieht – eine Erinnerung und – also die grimmigste Wirklichkeit, die standhafteste Gegenständlichkeit, die es unter Umständen für den Menschen in der Welt geben kann.

Wer hat es noch nicht an sich selber erfahren, was für einen eisernen Griff die Erinnerung haben kann, wenn sie emportaucht aus dem bunten Spiel der Gegenwart, heraufbeschworen durch den Zufall?

Albin kannte die junge Dame, die da vorandert halb Stunden in der Abendgesellschaft so fröhlich-kindlich gelacht hatte, auf deren blonden Scheitel zu derselben Zeit der Schein der nächsten Gaslichtflamme fiel, wenig oder, besser gesagt, gar nicht. Sie war neu im Leben, in der Gesellschaft und vor allem in dieser Gesellschaft. Ihre Mama hatte sie ihm vorhin vorgestellt:

»Meine Tochter, lieber Hofrat. Eben aus der Pension in Lausanne zurück und doch auch bereits eine große Verehrerin von Ihnen. Entzückt wie alle von Ihrem letzten herrlichen Vortrag im ›Hôtel de Rome‹ für den Verein zur Rettung verwahrloster Kinder. Dies ist der Herr, Rahel! Oh, wie hat sich das Närrchen auf diesen günstigen Zufall gefreut und doch schreckliche Angst vor Ihnen gehabt und vor dem berühmten Manne!«

Der berühmte Mann hatte sich, bescheidentlich abwehrend ob des schmeichelhaften Epithetons, vor dem wirklich niedlichen, dem scheuen, neugierigen Kinde verneigt und einige Augenblicke mit ihm von Lausanne, dem Genfer See und der französischen Schweiz im allgemeinen gesprochen. Dann waren sie wieder voneinander getrennt worden; mit einer abermaligen Verbeugung war Hofrat Dr. Brokenkorb zurückgetreten in eine andere Gruppe seiner Verehrer und Verehrerinnen. Zu viele der lieblichen Fräulein wurden ihm in der Reichshauptstadt und durch das ganze gebildete Deutsche Reich vorgestellt, als daß er sie alle im Gedächtnis hätte festhalten können. Auch das lag wie ein Kranz, und zwar wie einer aus eben sich erschließenden Rosenknöspchen, um sein Leben. Er behielt unbedingt für alle die süßen Geschöpfe ein Herz, wenn er sie gleich nicht allesamt individuell im Gedächtnis zu behalten vermochte. Das ihm eben bekannt gewordene[281] hatte er fünf Minuten später vollständig vergessen, und es hatte auch im letzten Grunde trotz seiner Niedlichkeit doch wenig an sich, was einem verwöhnten Liebling der Götter und der Menschen ein ganz besonderes Interesse hätte abgewinnen können.

Ein leises Lachen der jungen Dame und ein Lichtstrahl eine Stunde – zwei Stunden später, ein zufälliger Blick und ein Aufhorchen mitten in der lebhaftesten Unterhaltung im Kreise der wirklich interessanten Gäste des Abends, und – Hofrat Dr. Albin Brokenkorb gehörte für diesen »jour fixe« der ihn gegenwärtig umgebenden Welt nicht mehr an.

So hatte vor Jahren ein anderes junges Kind gelacht, so war das Licht auf ein anderes blondes Haupt, auf einen anderen zierlichen Hals und andere anmutige Schultern gefallen!

»Ich habe mein Teil!« hatte der Hofrat auf der Treppe zu seiner Wohnung hinauf gestöhnt, und nun hatte er – Uhusens Wanderstab in der Hand – in der Stille der Nacht weiter mit der Erinnerung abzurechnen. In Travemünde, in einer Mondscheinnacht am Strande der Lübischen Bucht war's gewesen, wo ihm der Stock vor langen, langen Jahren – damals frisch aus der Hecke geschnitten – zum erstenmal unter die Nase gehalten worden war, und zwar von seinem besten Freunde Uhusen, dem Sohn des ersten Buchhalters seines Vaters:

»Wie kannst du glauben, daß ich das arme, alberne Ding dir sentimentalem, aus lumpigen Redensarten zusammengeflicktem Hanswurst so ganz ohne weiteres überlassen werde? Aufgewachsen bist du mit mir; zusammengehalten haben wir so ziemlich bis dato, aber für derartiges Kompaniegeschäft mit der Gewissenlosigkeit danke ich für jetzt und in alle Zukunft. Merke dir das, mein Junge, und nimm mir die außergewöhnliche Grobheit nicht übel. Ich habe auf dem Wege von der Stadt das Äußerste getan, meine Meinung für diesmal so kurz und höflich als möglich zusammenzufassen.«

Im Badehotel hatte sich die beste Gesellschaft und ein Teil der weniger guten mit den Gästen aus den Fischerhäusern entlang der Trave zu Spiel, Musik und Tanz nach gewohnter Sommerweise[282] zusammengefunden. Der rote Lichtschein aus den Fenstern der Säle leuchtete hin auf die See, und die See lag im weißen Mondnebel, und die kleinen Wellen der Nähe flimmerten im silbernen Glanz und verrauschten kaum hörbar auf dem feinen Ufersande. Im Badehotel schwiegen Hörner und Geigen, aber aus der Ferne von den Wassern her klang es lieblich und geheimnisvoll herüber, als habe sich dort eine noch feinere und vielleicht auch noch gemischter Gesellschaft zu Gesang und Tanz ein Stelldichein gegeben in der Sommermondnacht, als führten da den Reigen die Nixen und feuchten Herrschaften aus süßem und salzigem Wasser, Undine und Kühleborn, Prinzessin Ilse und Amphitrite und Thetis und alle, die mit dieser Göttin aufstiegen aus der purpurnen Tiefe – unsterbliche Töchter des Nereus –, den teuren weinenden Achilleus ob des Falls des schönen Patroklus zu trösten.

Und beinahe war dem auch so, wenn es sich auch gerade nicht um den Kampf vor Ilion und den Schmerz und Zorn des Peleussohnes handelte. Das schönste Mädchen von Lübeck und vom Ufer der Trave schaukelte dort im blumengeschmückten, von bunten Lichtern glänzenden Kahne auf dem heiligen Meer, und – Peter Uhusen hatte gar nicht unrecht, wenn er sehr ergrimmt auf sich selber war. In einer solchen lichten, warmen Mondnacht konnte es selbst dem größten und gutmütigsten »Hornochsen« klarwerden, daß man eine »beiderseitige erste Liebe« doch ein wenig zu nachtmützenhaft dem besten Freund und verzogensten Muttersöhnchen der damaligen Lübecker guten Gesellschaft zu einem »Tanz am Strande« überlassen könne.

Da liegt ein einzelner Steinklotz, von dem nur die Gelehrten wissen, wie er dahin gekommen ist, am sonst durchaus nicht felsigen Ufer der Bucht; und gegen diesen harten Block hatte der eine Schulfreund den andern allgemach mehr und mehr hingedrängt:

»Nun, was hast du für dich zu sagen? Ich komme für ihren Vater, hinter dem Rücken der dummen Gans, ihrer Mutter, um mich um Erdwine hier bei euch zu bekümmern. Und ich bekümmere mich um sie: – mit heraushängender Zunge bin ich von der[283] Stadt aus jetzt gottlob hier. Bloß recht vergnügt seid ihr? Bloß das gewöhnliche Rhinozeros bin ich? Da dem schwedischen Granit hinter deinem feigen Buckel haben wir, ihr Alter und ich, es ganz allein zu danken, daß du uns Rechenschaft von diesem heutigen vergnügten Tage ablegst.«

»Ich stehe ja selber in Unruhe hier an der See«, sagte Albin kläglich-pathetisch. »Mama hat mich den ganzen Nachmittag und Abend an ihrer Seite festgehalten, und du kannst mir glauben, Peter, 's ist heute wenig Vergnügen für mich hier zu holen gewesen.«

»Ja, deine Mutter – deine Mama! Was die Frau Senatorin dazu tun kann, dich zum Narren und das arme Ding zur Närrin zu machen, das besorgt sie freilich mit und gegen den Strich aus ihrer idealen Weltanschauung heraus. Weshalb kann sie den Leutnant und mich – ich wollte sagen unsere Erdwine nicht allein lassen? Was hat Erdwine überhaupt in eurer nobeln Gesellschaft zu suchen? Jawohl, die Frau Leutnant, die Hauptnärrin, sitzt freilich und renommiert gegen die Nachbarschaft ob der Ehre, die ihrem Kinde, ihrem Mädchen durch die respektable Firma Brokenkorb Mutter und Sohn angetan wird, während der alte Mann wie ein zahnloser Bär mit einem Ring durch die Nase auf und ab in seiner Stube stapft und an seiner Pfeifenspitze seinen verstockten Gram und Grimm verkaut. Denke nur ja nicht, süßer Knabe, daß ich des frivolen Backfisches und eurer lieben Gesichter wegen hier bin! Des alten Herrn wegen bin ich den Weg von der Stadt her zu Fuß gelaufen. Und, beim stinkenden Acheron und faul fließenden Styx, um dich hier im himmlischen silbernen Mondschein in seinem Namen am Kragen zu nehmen und mich in seinem Namen zu erkundigen, wie ihr sämtlich euch hier amüsiert! Laß mich ausreden, Schafskopf! Ein riesiger Kuhschwof ist es natürlich zu Lande und zu Wasser – das Meer erglänzte weit hinaus – ich weiß nicht, was soll es bedeuten – am Ganges duftet's und leuchtet – das ist kein Rauschen des Windes, das ist der Seejungfern Gesang – und wie der Bafel sonst so bei euch zu Hause in euern romantischen Stimmungen lautet. Ja, du schönes Schiffermädchen, treibe den Kahn ans Land, das heißt, dich, alter[284] Junge, lieber Freund, armer Hase, dich, Albinus, frage ich jetzt: wie lange gedenkt ihr noch dies Spiel weiter zu treiben? Denn ein Spiel und nichts weiter ist es! Aber ich will's nicht länger, hörst du, Albin? Ihr sollt dem Leutnant Hegewisch und mir das Kind nicht zu einem Spielzeug machen! Ist es bereit dazu, so ist mir ihr Vater zu gut dafür. Hat denn deine Mutter gar keinen Begriff davon, welche Verantwortlichkeit sie auf sich ladet, wenn sie das Mädchen von Tag zu Tag mehr zu einer phantastischen Komödienpuppe macht?«

»Man scheint hier recht sonderbare Fragen an meinen Sohn zu stellen«, sagte plötzlich eine Stimme neben den beiden jungen Männern oder vielmehr den eben dem Jünglingsalter zuwachsenden Knaben. Die Frau Senatorin Brokenkorb, die Mutter Albins, war, unbemerkt von den beiden, auch von dem Festsaale her gegen den Strand hinabgeschritten, war gerade recht zu dem letzten Teile ihrer Unterhaltung gekommen und hatte dem Dinge mit nicht ungerechtfertigtem Erstaunen zugehört.

»Was gibt diesem unerzogenen – ungezogenen Buben das Recht, sich in solcher Weise in Angelegenheiten zu mischen, die durchaus über seinen Horizont hinaus liegen?« fragte die Frau Senatorin. »Du kennst schon längst meine Meinung über diesen deinen Umgang mit Leuten, die ihrer Bildung wie ihrer gesellschaftlichen Stellung nach nicht zu uns gehören, Albin. Wenn du bis jetzt meinen Wünschen in dieser Beziehung nicht Folge gegeben hast, so rede ich nunmehr deutlicher und spreche dir meinen Willen aus. Von diesem Moment ab ist dein Verkehr mit diesem jungen Mann, dem Sohn des Bediensteten deines Vaters, für immer zu Ende. Wir reden nachher noch darüber; jetzt gib mir deinen Arm, man vermißt dich schon zu lange dort in unserm Kreise, mein Sohn. Außerdem wünsche ich auch so bald als möglich nach der Stadt zurückzukehren, um in dieser Nacht noch mit deinem Vater ein Wort über sein und unser Verhältnis zu diesem – dieser – Familie Uhusen reden zu können....«

Wie klar und leuchtend und – widerwärtig jene Jugendmondnacht dem jetzigen geistreichen, poetischen, gelehrten Hofrat und Doktor der Philosophie Brokenkorb in dieser Nacht nachdem[285] eben zu Ende gehenden jour fixe seiner Hausmitbewohner vor der Seele lag! In dieser Nacht gab es kaum einen zweiten gleich »glücklich angelegten« Menschen in der Stadt, dem eine rege Erinnerungskraft und eine etwas fahrige Phantasie ein gleiches Mißbehagen bereiteten.

»Na, da habe ich mir – uns wieder einmal eine nette Suppe eingebrockt«, hörte er hinter sich noch das Wort des Freundes, während er die Mama nach dem Strandhotel zurückführte oder, wahrlich, viel mehr von der stattlichen Dame widerstandslos dorthin zurückgeführt wurde. Es war nicht mehr die Konversation, das Gesumm, die Musik der Gesellschaft, welcher er eben mit dem Taschentuch an der Stirn sich entzogen hatte; es waren nunmehr der Lichterglanz, der Lärm, das Gewoge, die Geigen und Hörner jener Gesellschafts-, Konzert- und Tanznacht in Travemünde, die ihm jetzt einen gesunden, traumlosen Schlaf vor allen andern Genüssen der Erde wünschenswert erscheinen ließen.

Er aber hatte sich diesmal wachend mit den seltsamen Träumen des Daseins abzufinden und mit seines Schulgenossen Peter Uhusens knotigem Wanderstab aus den grünen Hecken seiner Kinderheimat in der feinfühligen Hand, nervösest aufgeregt, durch das Gewirr, die flimmernden Schatten auf den längst zugewachsenen Pfaden seines Lebens sich den Weg zu bahnen.

Sie waren von Kindesbeinen an ganz gute Freunde, er und Peter Uhusen, der Sohn von seines Vaters Buchhalter. Er sah den Papa Uhusen im Laufe der Jahre hinter seinem Schreibpult zu einem dürren, kümmerlichen, gedrückten Männchen einschrumpfen und den Peter zu dem längsten, breitschulterigsten, unbeholfensten Burschen des ganzen Gymnasiums im alten Katharinenkloster heranwachsen. Sein eigener Papa hatte nicht das mindeste gegen seinen Verkehr mit dem Sohne seines alten Kontorgenossen einzuwenden, und seine Mutter fand längere Jahre ebenfalls nichts Bedenkliches dabei, bis sie mit höchstem Mißbehagen, und als es »beinah schon zu spät zur Abhülfe war«, herausfand, daß er durchaus nicht für ihren »Knaben« passe.

»Deine Alte ist eine Riesin, Albino«, sagte Peter. »Daß sie Geschmack hat und alle in der Stadt in der Hinsicht in die Tasche[286] steckt, das weiß Lübeck. Das weiß nicht nur Lübeck, sondern auch Hamburg und Bremen und alles, was sonst noch von den freien Hansen übrig ist in unseren sämtlichen Enklaven im Ratzeburgischen, im Amt Ritzebüttel und Bergedorf; Bremerhaven nicht zu vergessen. Wie schade für dich, weiche Seele, und vielleicht auch für meinen alten Papa in eurer Schreibstube und draußen zwischen seinen Tulpen und Pelargonien, daß sie mich so sehr wenig riechen kann! Na, komm aber nur heute nachmittag noch einmal heraus zu uns. Der Leutnant kommt auch an den Zaun, und das Erdwinchen heben wir herüber. Einmal soll es trotz allem guten Geschmack und übeln Geruch zwischen der Wackenitz und der Trave doch noch ein netter Abend werden, und wir lesen ›Wallensteins Lager‹ mit möglichst verteilten Rollen.«

Wie der Freund auch der Frau Senatorin »riechen« mochte, der gut erzogene Sohn brachte doch seine liebsten Stunden in der Gesellschaft des Schlingels in dem kleinen Vorstadthäuschen des Buchhalters Uhusen und im Haus- und Gartenverkehr mit der nächsten Nachbarschaft dort, jenseits der Grenzen der besten Gesellschaft der Stadt, hin. Nicht bloß im Sommer, sondern auch im Winter. Es war dem Hofrat Dr. Brokenkorb mit Peter Uhusens Weißdornprügel ein Zauberstab in die Hand gegeben, unter dessen Berührung all das vergangene Grün, all der vergangene Schnee der Kinder- und Jugendjahre fast »physisch-peinlich« wieder lebendig wurde in dieser Nacht. Er hielt wenig Vorträge, in welchen er ihn nicht zitierte, den großen Landsmann Emanuel Geibel, der so schön gesungen hat von den Glocken und Gassen, den Gärten und Türmen, den Märkten und Wällen der alten, edeln, prächtigen Heimatsstadt; aber in dieser Nacht, nach diesem letzten jour fixe mit Uhusens Stock über den Knien hatte er seit lang zum ersten Male wieder nicht nötig, den lieben Dichter aus dem Bücherschrank zu holen, um sich – eine Stimmung zu geben.

»Dieser alte, närrische Papa Uhusen mit seiner Verliebtheit in unsere alten lübischen Glocken!« sagte der Hofrat. »Er mit seinem Zifferngesicht in meines seligen Vaters Kontor und – sofort mit der Hand hinter dem weniger tauben Ohr, wenn sie[287] anfingen zu singen auf den nächsten Türmen! Wie deutlich ich meinen eigenen Papa wieder höre mit seinem ›Uhu sen, was träumen Sie?‹ Und wie deutlich ich dann ein Stockwerk höher meine Mutter vernehme: ›Brokenkorb, wovon träumst du wieder im Schlafrock? Seit einer Stunde solltest du schon im Gesellschaftsanzuge sein!‹ ... Jaja, wir führten einen wunderlichen Haushalt damals, und einen wunderlichen Haushalt führten der Peter und sein Vater und seine Tante Gottliebe draußen in ihrem kleinen Gartenhause vor dem Tor! Hm, ha, auch die Gottliebe! Ich habe seit Jahren nicht an die gedacht, und wie gut sie doch zu uns hielt bei allen dummen Streichen, in welche ihr Peter seine besten Freunde am liebsten mit verwickelte! Ei freilich, es war wohl nicht ohne Grund, daß meine selige Mama so mancherlei gegen meinen Umgang mit den Leuten vor dem Tor einzuwenden hatte! Haha, und es waren doch vortreffliche Zeiten, als wir noch so jung waren im alten Lübeck während und nach den schleswig-holsteinischen Feldzügen. Was hast du nachher noch Besseres und Nützlicheres erlebt, Albin? Und vor allem nach jener Mondscheinnacht in Travemünde, die allem Verkehr des Hauses Brokenkorb mit dem Hause Uhusen ein so jähes tragisches – ja so albern-triviales Ende machte?! Was hast du dir angelernt, was hat man dich angelehrt, seit sie ein so verdrießliches Ende nahmen, die Tage deiner Jugend, deine Lehrjahre im Hause Uhusen und Kompanie? Worte, Phrasen, alles das, was, von anderen abgetan, der Mittelmäßigkeit, der Herde Mode wird! Was zählst du als deinen wirklichen, wahrhaftigen Menschengewinn in dieser Nacht mit diesem Stock in der Hand für dich zusammen, Albin? Sie nennen dich einen Gelehrten; aber bist du es? Sie heißen dich einen Poeten; aber hast du das Recht, selber dich als einen solchen zu fühlen? Ist es nicht, als käme sie jetzt zum erstenmal seit deinen Knabenjahren wieder zu dir, die hohe Göttin, und zwar gestützt auf diesen Zauberstab in deiner Hand? Albin, Albin, was hattest du den Leuten an Wahrheit aus deinem Herzen zu bieten, wenn du ihnen deine schönen Reden hieltest? Wann hast du zu ihnen anders als aus den Sorgen deiner Eitelkeit heraus gesprochen? Wann sahest du[288] je Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wie in dieser bittersüßen Stunde, Albin Brokenkorb? Commediante – tragediante, hast du jemals aus einer Stunde wie diese jetzige das geringste von der Menschen Wesen auf Erden in deine Reden hineingetragen? Reden? Ja, Reden aus Redensarten! Zitate und wieder Zitate – Konversationslexikonsweisheit und Tagesliebedienerei, Hofrat, Doktor Albin Brokenkorb!«

Quelle:
Wilhelm Raabe: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band 6, Berlin und Weimar 1964–1966, S. 280-289.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Im alten Eisen
Im Alten Eisen; Eine Erzahlung
Sämtliche Werke: Raabe, Wilhelm, Bd.16 : Pfisters Mühle; Unruhige Gäste; Im alten Eisen: Bd 16 (Raabe, Samtliche Werke)

Buchempfehlung

Anonym

Schi-King. Das kanonische Liederbuch der Chinesen

Schi-King. Das kanonische Liederbuch der Chinesen

Das kanonische Liederbuch der Chinesen entstand in seiner heutigen Textfassung in der Zeit zwischen dem 10. und dem 7. Jahrhundert v. Chr. Diese Ausgabe folgt der Übersetzung von Victor von Strauß.

298 Seiten, 15.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon