Fünftes Kapitel

[289] »Und morgen früh will er wieder vorsprechen, und er wird mich nach meinen Erfolgen in der Welt ausfragen wollen!«

Er sprang empor, der Herr Hofrat Brokenkorb, noch immer mit dem alten Weißdorn aus der Hecke an der Trave in der Faust. Aber er machte jetzt Miene, als wolle er das bedeutungsvolle Gedenkzeichen so weit als möglich von sich schleudern; es blieb jedoch bei dem Gestus. Leise und scheu trug er nur das wunderliche Memento des Jugendfreundes in die fernste Ecke des Gemaches und kam zurück zu seinem Platz und saß von neuem hin mit den Ellenbogen auf dem Tische und dem Kopfe in der Hand. Es war nun so spät in der Nacht geworden, daß er unter sich den Aufbruch der Gesellschaft in den Zimmern, die Stimmen, das Lachen und die höfliche Dankbarkeit der Herren und Damen auf den Treppen und alles andere Geräusch, was zu solchem »Ite, missa est!« gehört, die letzten Grüße vor der Haustür und das Rollen des letzten Wagens vernahm. Er horchte angestrengt hinter alledem drein und dachte: das ist der und der – da lacht die und die – das ist der Wagen des Kommerzienrats Fallensleben, und da geht der gute Major von Grützbeutel mit seiner Frau; – und er war mit seiner Seele nicht im geringsten bei all diesen Leuten und dem Lärm, den ihr Abschiednehmen in der Stille der Nacht hervorbrachte.

Ihm war unbedingt nicht wohl, es ging ihm alles zu arg durcheinander. Waren das nicht dieselben Stimmen, das nämliche[289] Lachen vieler gleichgültiger Menschen, die ihm, auch eben, den Sinn betäubt hatten am Ufer der Lübischen Bucht und im Tanzsaal des Strandhotels zu Travemünde, als die Kähne von der See zurückgekommen waren und das junge Volk sich in die Türen drängte und das Mondenlicht und das Licht der Kronleuchter auf einem jungen blonden Scheitel glänzte, während die ganze übrige Welt in einem Schatten versank, in welchem nur der schwarze Peter draußen am Strande und die erzürnte Mutter, die Frau Senatorin Brokenkorb, von Bedeutung waren?

»Erdwine!« murmelte er, und dann suchte er sich zu entsinnen, wie lange es wohl her sei, seit er diesen Namen zum erstenmal hörte. Jaja, noch einige Jahre vor jener Sommerfestnacht an der See! Er war selber noch vollkommen ein Knabe, als er eines Tages im Zimmer seiner Mutter eine sonderbar aufgeregte fremde Dame mit einem kleinen Mädchen getroffen hatte. Und Mama und die Fremde hatten einander du und bei ihren Taufnamen Amalie und Adele genannt, und nachher bei Tische hatte Mama dem Papa mit kopfschüttelnder Verwunderung und einiger Unruhe das Genauere über den Besuch erzählt. Nämlich, daß Adele, ihre beste Schul- und Jugendfreundin, wieder in Lübeck sei und mit ihrem allerliebsten Töchterchen und ihrem Mann, dem Leutnant Hegewisch, ein Häuschen unter den kleinen Leuten vor dem Tor bezogen habe. Erdwine heiße das Kind, und der armen Adele sei es draußen in der Welt nicht besser gegangen wie zu Hause von dem Bankerott ihres Vaters, vom Bankerott von Ryge & Kompanie an, und ihr Mann sei der nämliche unpraktische, eigensinnige Phantast und Schwärmer wie in der Zeit, als die Dänen die Trave blockierten und er zu den Schleswig-Holsteinern lief. Es sei ihr sehr schlecht gegangen, der Adele, dem törichten Geschöpf, und nun seien sie zu drei wieder da – Mann, Frau und Kind –, und was sie – Amalie Brokenkorb – für die Freundin in der Gesellschaft tun könne, das werde sie selbstverständlich tun. Es werde dem armen Weibe, dieser lächerlichen Frau Leutnant, aber wohl herzlich schwer werden, sich nur notdürftig durchzubringen, da sie nicht nur für ihr Kind, sondern auch für ihren Mann zu sorgen habe.[290]

Der Hofrat Brokenkorb erinnerte sich ganz deutlich des »Hm's!«, das der Papa damals hatte vernehmen lassen, und ebenso genau erinnerte er sich einer Unterhaltung, die nachher im Kontor zwischen dem Senator und seinem Schulgenossen und Buchhalter Uhusen vorgefallen war und die damit schloß daß der Papa seinen Gehülfen an einem Rockknopf an seinen Lehnstuhl zog und ihm zuflüsterte:

»Es ist mir angenehm, Uhusen, daß Sie und unser armer Hegewisch Nachbarn geworden sind. Nehmen Sie sich des Mannes nach Möglichkeit an, und wenden Sie sich sofort an mich, wenn ich irgendwo helfen kann, ohne Aufsehen zu erregen. Und, alter Freund, suchen Sie sich auch mit der Gans, seiner Frau, so gut als möglich zu stellen. Sie werden's schon wissen, wie ich das meine; Sie können vielleicht manches tun, dem Mann auch in dieser Hinsicht seine Lebensbürde zu erleichtern. Sein Husten gefällt mir gar nicht; und ein guter Nachbar, der ein wirkliches Einsehen in die Sachlage hätte, wäre dem armen Tropf wohl an die Seite zu wünschen. Und, Uhusen, da wir gerade einmal bei diesem Thema sind: es ist mir lieb, daß Ihr Junge sich des meinigen etwas annimmt; und nun – lassen Sie uns wieder von anderen Dingen reden; nehmen Sie die schwedische Korrespondenz mit zu Ihrem Pult; Christiania muß sofort expediert werden; wegen Dübourg & Sohn in Kopenhagen will ich selber an unsern Rechtsanwalt schreiben.« –

Der bekannte Gesellschaftsredner Albin Brokenkorb erinnerte sich ganz genau, wie er noch am selbigen Tage in dem Hause vor dem Tor den Kameraden am Arm genommen hatte: »Du, weißt du, was mein Papa heute gesagt hat? Du sollst dich meiner annehmen und dein Vater des Herrn Leutnants, und die Frau Leutnant sei eine Gans. Und meine Mama will sich der Frau Leutnant und Erdwinens annehmen, und ich darf auch höflich mit ihr umgehen, mit Erdwine nämlich, und den guten Ton niemals aus den Augen setzen, und das habe ich Mama auch versprochen und ihr auch gesagt: eigentlich sei das gar nicht mehr nötig, denn du, Peter, betrügest dich schon wie ein alter Ritter gegen sie, obgleich du sonst gar nichts nach Mädchen frügest.[291] Und den besten Ton hättest du auch, das wüßte die ganze Schule, und deshalb nennten sie dich auch nicht bloß den langen Peter, sondern auch den schwarzen Peter und Peter den Großen und manchmal auch gar nicht Peter, sondern den Schmied von Jüterbog.«

»Schafskopf!« hatte der lange, große und schwarze Peter geschnarrt. Ach, wenn die Damen seiner gewohnten Zuhörerschaften hätten sehen können, wie tief ihrem Lieblingsdenker die »träumende Stirn« herabsank ob der Träume dieser Nacht, die ihm diesmal nicht aus Schaum und Dunst und Literaturgepflogenheiten erwuchsen, sondern die der Nachhall wirklicher Schritte in der Welt, wirklich gesprochener Worte, geweinter Tränen, gelachten Lachens, wirklich gefühlter Gefühle und gedachter Gedanken waren! Sie hätten ihn sicherlich wieder »entzückend« gefunden; ob sie ihn begriffen haben würden, wenn er ihnen auch diesmal von seinen Stimmungen Bericht zu geben versucht hätte, ist freilich eine andere Frage.

Stimmungen!

Der Mensch macht sich Stimmungen und benennt dieselben dann verschieden. Albin Brokenkorb machte aber in dieser Nacht seine Stimmungen seit langer Zeit zum erstenmal wieder nicht selber und gab ihnen deshalb auch keine Namen; wir aber, wir können item deswegen wahrlich nichts dafür, daß unser Bericht von seinen Bildern in dieser Nacht vielen im hohen Grade verworren erscheinen wird. Eine Beruhigung für uns ist, daß die Lebenserfahrenen wohl wissen, an wen sie sich in solchem Falle zu halten haben – nämlich an sich selber in selbstdurchwachten gleichen Traumnächten und bei gleich unwiderstehlich ihnen aufgedrängtem Phantasiespiel. – –

Durch Jahre – aus der Kinderzeit bis in die Jünglingszeit, vorwärts und zurück, wie der Geist, der in dieser Nacht Gewalt über den Schlaflosen hat, es will – gleiten die Schatten und Bilder, wie wir das schon mühselig über die letzten Seiten mit unserem Nachschildern begleitet haben. Es ist Tag, und es ist Abend, es ist Frühling und Herbst, Sommer und Winter. Der schwarze Peter hebt Erdwine Hegewisch über die Hecke zum[292] Kinderspiel, und der angenehmste Jüngling von Lübeck, Albin, horcht am Strande auf die Stimmen von der See, wo die schönste Jungfrau der Heimatstadt, die lustige Gespielin im blumenbekränzten Kahn unter Festgenossen schaukelt, zu denen der schwarze Peter Uhusen, der dann und wann immer noch der Schmied von Jüterbog genannt wird, nicht gehört und auch selber sich niemals gerechnet hat. Eben war es noch, als sei die Welt gar nicht zu denken ohne den Freund Peter und den Papa Uhusen und den Leutnant und die schöne Erdwine, und nun hat schon die »gute, wohlmeinende selige Mutter« mit dem Vater gesprochen, wie sie es versprochen hat am Ufer der Mondscheinsee, und nun sind sie alle gegangen – wie Traumgebilde einer Nacht – dieser Nacht. Wenn der Stock im Winkel nicht wäre, brauchte Hofrat Dr. Brokenkorb sich nicht im geringsten auf ein Abgrübeln über ihr mögliches, wirkliches Dagewesensein auf der Erde einzulassen!

Es half ihm nichts, dem armen Albin, daß er das Gedenkzeichen so weit als möglich von sich ab in den Winkel geschoben hatte; immer von neuem mußte er jetzt den Kopf nach jener Ecke hinwenden.

»Was ein Stock erzählen kann!« das hätte von Rechts wegen das Motiv, der Inhalt und der Titel seiner nächsten Vorlesung sein müssen; uns aber wird's allgemach zuviel, einem Menschen auf seinen Sprüngen zu folgen, der nicht mehr imstande ist, seine Begriffe, Gedanken und Bilder beisammenzuhalten und aneinanderzureihen.

Wir hören nur noch, wie der Stock im Winkel sagt:

»So lebtet ihr zusammen, so liefet ihr auseinander – so verscholl Erdwine Hegewisch in der Welt. Und nun geh zu Bett, Albin. Das Aufsitzen in der Nacht hilft doch zu nichts. Morgen früh kommt mein Herr, der mich aus der grünen Hecke schnitt, als ihr die Welt noch vor euch hattet. Was aber geht mich im Grunde das an? Mir war's auch wohl, ehe mich der Narr, der schwarze Peter, Ihnen zu Ehren und Nutzen, geehrter Herr Hofrat, vom erdeingeborenen Wurzelstock riß!«[293]

Quelle:
Wilhelm Raabe: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band 6, Berlin und Weimar 1964–1966, S. 289-294.
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