Drittes Kapitel

[304] Von den zutunlich wedelnden Hunden des Berghauses umgeben, stand der alte Herr noch einen Augenblick auf dem Steintritte vor der Haustür und atmete in vollen Zügen die frische Gebirgsluft. Dazu lachte er vergnügt in sich hinein, und da jetzt zu Esel, Maulesel und zu Fuße ein nicht kleiner Schwarm von Touristen sich der Wirtschaft näherte, so entfernte er sich seinerseits, das heißt er suchte seinen eigenen Weg über die Landstraße[304] weg auf einem kaum sichtbaren Fußpfade, der sich durch ein Gewirr von abgewaschenen Granitblöcken schräg bergan zog. Dieser Pfad erreichte die große Straße nach einer kleinen Stunde, kreuzte sie abermals und stieg in die Täler hinab, Jemand, der ihn nicht ganz genau kannte, der hätte ihn bald verloren, und wenn er ihn noch so fest und sicher unter den Füßen zu haben glaubte. Dem Justizrat Scholten kam er nicht abhanden; doch wurde er auf ihm aufgehalten, und zwar durch ein schönes Weib und Bild, auf welches beides er stieß, als er wiederum aus dem Tannendickicht auf die Chaussee trat.

Eine Dame hielt allein in der Einsamkeit, auch auf einem Maulesel, seitab des Weges auf einem Felsenvorsprung, den Blick über das zu ihren und ihres Tieres Füßen schroff sich senkende Waldtal in die Weite gegen Nordosten gerichtet; – regungslos, die Zugel über den Bug des ruhigen Tieres gelegt, das Kinn mit der Hand stützend – eine stattliche Figur – Kraft und Schönheit – schwarze Haare und schwarze Augen und in den Augen jenes seltsame Suchen der im Gewühl Einsamen –

»Ichor!« murmelte der alte Jurist. »Das freut mich!« Ichor aber ist ein griechisches Wort, von den griechischen Menschen erfunden als Bezeichnung für das Blut, welches durch die Adern ihrer Götter rann als ein klarer Saft – »denn nicht kosten sie Brot, noch trinken sie funkelnden Weines«. Der Rufer im Streite Diomedes entlockte es durch einen Lanzenwurf der Hand Aphrodites, und die Göttin schrie laut auf und flüchtete weinend; aber Dione sänftigte ihr die Schmerzen, und es lächelte sanft


..... der Menschen und Ewigen Vater,

Rief und redete so zu der goldenen Aphrodite:

Nicht dir wurden verliehen, mein Töchterchen, Werke des Krieges.

Ordne du lieber hinfort anmutige Werke der Hochzeit.

Diese besorgt schon Ares, der Stürmende, und Athenäa.


Ichor entquoll auch dem schrecklichen Ares, und er schrie wie zehntausend der sterblichen Menschen; weshalb jedoch der Justizrat Scholten das Wort jetzt zu einem Ausruf verwendete,[305] bleibt uns fürs erste dunkel, wir werden es aber erfahren, und zwar nach und nach.

Der letzte, nach der Straße hin vom Walde ausgestreckte Tannenzweig hob dem Alten die Mütze vom Kopfe.

»Gehorsamer Diener!« sagte er, nämlich der Justizrat; und auf dieses Wort wendete die schöne Dame das Gesicht von der schönen Aussicht ab und blickte auf die Störung, doch sie lächelte ebenfalls erfreut, als sie den Störenfried erkannte. Scholten grüßte, während sie ihr Reittier wendete, trat rasch auf den Grashang zwischen den Felsen und reichte ihr die Hand:

»Auf dem Kreuzwege am Blocksberge! Natürlich! Guten Tag, liebe Baronin! Guten Tag, Frau Salome!«

»Guten Tag, lieber Scholten«, sagte die Dame. »Im Grunde weiß ich freilich nicht, ob ich Sie so anreden darf – so mit einem ganz gewöhnlichen Familiennamen, dem Titel Justizrat und einem: Karl – Heinrich, August, Friedrich oder dergleichen dazu. Sie stehen mir da viel zu eng in Verbindung mit den Herrschaften hier unter Ihren Füßen, hundert Klafter tief in der Erde –«

»Und so glauben Sie freundlichst, man habe mich meiner Frau Mutter vor sechzig Jahren als Wechselbalg in die Wiege gelegt, und der richtige, ehelich erzeugte junge Scholten – anderthalb Fuß hoch – trete im Mondschein Hexenringe in das grüne Gras und vermelke den Bauern mit einem so gesegneten Durst die Kühe, daß die Butter da unten in den Städten der Ebene um fünf Groschen aufschlägt. Danke gehorsamst.«

Die schöne Dame lachte; aber da in diesem Augenblick ein Häher sich über ihr in einem Baumwipfel niederließ und hell herniederkreischte, so benutzte der Justizrat auch das und diesen Vogel noch zu seiner Gegenrede.

»Darf ich die Herrschaften miteinander bekannt machen«, sagte er mit einer Verbeugung und einem Blick nach dem Buchenzweig in der Höhe: »Mein Gevatter, Herr Markwart, aus dem Geschlecht Corax, Glandarius in der Familie genannt – Frau Baronin Salome von Veitor, Bankierswitwe aus Berlin, Millionärin und unzufriedene Weltbürgerin in den Kauf – reitet[306] vortrefflich, nimmt sich ausgezeichnet aus zu Maultier auf einem Felsvorsprung unter den germanischen Buchen und Tannen, würde jedoch unter den Palmen des Orients, auf einem Dromedar, sich –«

»Noch viel besser ausnehmen. Ei, lieber Justizrat, Sie waren ja nie in Palästina und können also durchaus nichts davon wissen, wenn Ihnen nicht irgendeine Erinnerung an einen Holzschnitt nach irgendeinem Bilde von Horace Vernet im Gedächtnis hängen blieb. Aber Sir Moses Montefiore sah mich auf dem Berge Karmel und war in der Tat entzückt. Ich kann Ihnen nur raten –«

»Sich in Ihrem deutschen Philisterbewußtsein zurechtzufinden und gemütlich einzurichten. Liebe Freundin, ich freue mich unendlich, Ihnen begegnet zu sein oder haben wenn ich jedoch durch den fortwährenden Umgang mit mir selber grenzenlos langweilig geworden sein sollte, so lassen Sie's nur nicht mich entgelten; – sonst aber, wie befinden sich Euer Gnaden?«

»Durch den fortwährenden Verkehr mit der Welt durchaus nicht verwöhnt, momentan sehr wohl. Bester Scholten, ich habe Sie bereits gesucht, das heißt ich habe die letzten Wochen durch fort und fort gehofft, Euch Sonderlichsten der Sterblichen an einer Wendung des Weges zu treffen. Nun haben wir hier freilich die rechte Stelle getroffen, um uns in der gewohnten Weise zu grüßen und die Wahrheit zu sagen oder allerlei Wahrheiten, wie man da unten im flachen Lande sich ausdrückt.«

Der Justizrat war so nahe als möglich getreten und hatte dem Maulesel der schönen Jüdin die Hand auf die Kruppe gelegt:

»Wird das auch heut abend zu einer Ofengabel oder einem Besenstiel?«

Die Baronin lachte:

»Ei, Herr, Sie haben es ja selber bemerkt, daß wir uns unter den germanischen Buchen- und Tannenbäumen befinden. Was habe ich mit euren Mysterien und Mythologien zu schaffen? Da wir zu Hause keine Ofen hatten, so kannten wir wahrscheinlich auch keine Ofengabeln, und über die Art der Zimmer- und Gassenreinigung zu Jerusalem sind eure Gelehrten auch noch nicht ganz einig. Auf dem Toten Meere tanzten wir leichtfüßig[307] über dem Salz-, Schwefel- und Asphaltschaum; bleibt mir gefälligst mit eurer Bratäpfel- und Singende-Teekessel-Dämonologie vom Leibe. Wie wäre es aber, wenn Sie trotz alledem endlich einmal wieder eine Tasse Tee bei mir trinken würden?«

Der Justizrat schien die letzte Frage gänzlich zu überhören.

»Götterblut!« murmelte er. »Beim Atemholen des Archipelagos, ich brauche ihr den Puls nicht zu fühlen! Ichor!«

»Was soll das bedeuten?« rief die Frau Salome. »Sie reden mit sich selber! Weshalb reden Sie nicht mit mir? Ihr Umgang scheint Sie freilich arg verzogen zu haben.«

»Hm, Sie haben recht, Gnädige. Was beliebten Sie zu sagen?«

»Ich lud Sie zu einer Tasse Tee ein, mein braver germanischer Waldspuk.«

»Und ich würde die Einladung selbstverständlich mit Vergnügen annehmen, wenn nicht heut abend vielleicht bei mir jemand zu Gaste wäre, den ich nicht gern allein am Tische sitzen lassen möchte. Wenn Sie aber eine neue Probe deutschen Spuks haben wollen, schöne semitische Zauberin, so rate ich Ihnen väterlich, mit mir zu reiten und meine Bewirtung anzunehmen. Über die letztere sollen Sie sich verwundern, und gewissen Leuten kann man keine angenehmere Gabe bieten als einen echten und gerechten Grund zur Verwunderung.«

Die Baronin Salome lachte erst, seufzte aber gleich darauf und sagte:

»So ist es.«

»Nun?«

»Ist vielleicht Freund Schwanewede aus Pilsum unterwegs?«

»Dem bin ich einen Besuch schuldig und Sie desgleichen, liebe Frau, Ich habe Sie auf einen neuen Spuk eingeladen, Baronin, und wiederhole meine Einladung.«

»Und ich nehme sie an, mein väterlicher Wundermann; die Sonne steht noch ziemlich hoch, und ich finde nachher auch wohl in einer Sternennacht den Weg durch den Wald nach Hause. Levate la tenda! Ich bin wirklich neugierig auf das, was Sie mir zeigen wollen.«

»Sie und Ihr Tier werden dann und wann vor einer Schneise[308] oder einem sonstigen Holzwege nicht zurückschrecken, und so reicht die Zeit für alles.«

»So denn hinein in das Geheimnis!« rief die Dame und ließ ihren Maulesel auf die Straße zurücktreten.

Es war ein hübsches Bild, wie die drei jetzt zusammen fürbaß zogen, der Esel, die schöne Jüdin und der Justizrat Scholten.

Quelle:
Wilhelm Raabe: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band 5, Berlin und Weimar 1964–1966, S. 304-309.
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