Siebentes Kapitel

[329] Die Dämmerung des schönen Sommertages war gekommen, und die Baronin Veitor zögerte immer noch im Hause der Witwe Bebenroth.

»Es würde mir so lieb sein, heute abend noch den Mann mit Augen zu sehen. Ich glaube, ich würde viel besser schlafen«, sagte sie.

»Was meinst du, Eilike«, fragte der Justizrat Scholten, sich an das junge Mädchen wendend, »würde der Papa sich heute abend sehen lassen?«

Eilike Querian schüttelte den Kopf:

»Ich steige wieder ins Fenster und schleiche zu Bett. Die Dachluke lasse ich offen wegen der Sterne und Wolken, und daß ich den Nachtwächter hören kann und die Katzen und Hunde und die Kühe in den Ställen. Ich schlafe dann auch viel besser. Weil aber der Mond scheint, ist's noch besser, denn da habe ich auch meiner Mutter weißes Bild am Bette, das sieht mich freundlich an und bewacht mich.«

»Es ist ein Gipsabguß des Kopfes irgendeiner Muse, Nymphe oder Nereide; aber es ist ein gutes griechisches Frauenzimmergesicht in der Tat, und so läßt man das Kind in Gottes Namen am besten bei seinem Troste. Seine Mutter kann es nicht gekannt haben, sie starb ihm zu früh«, sagte Scholten leise erklärend zu der Frau Salome.

»So lassen Sie uns die Kleine jetzt nach Hause begleiten und zeigen Sie mir wenigstens ihre und ihres Vaters Wohnung.«

Der Justizrat nahm seinen Hut und Eichenstock Eilike Querian sprang vor die Tür und löste dem Maulesel den Zaum von[329] der Hecke und legte ihm denselben geschickt zurecht. Die Witwe Bebenroth kam auch wieder herbeigekrochen und sagte höflich:

»Wollen Sie uns schon verlassen? Nun, besuchen Sie uns recht bald einmal wieder!«

»Verlassen Sie sich darauf!« murmelte die Baronin von ihrem Reittiere herunter. »Es ist nicht das letzte Mal, daß ich mich hier befand.«

So zogen sie ab vom Hause der Witwe quer durch das Dorf.

Es war längst Feierabend, und längst waren die müden Einwohner von ihrer Arbeit auf und unter der Erde heimgekommen; aber der Ort war kaum lebendiger dadurch geworden. Die Leute saßen müde Vor ihren Türen, und nur die Kinder waren wie gewöhnlich vor dem Schlafengehen noch einmal recht munter geworden und trieben wilder und mit helleren Stimmen ihre letzten Spiele an diesem Tage. Nun senkte sich wiederum am äußersten Rande des Dorfes der Weg in eine Talmulde, in die der Wald hineinwuchs. Da lag das Haus Querians, das sich, soviel man in der Dämmerung sehen konnte, durch nichts von den übrigen Gebäuden der Ortschaft unterschied. Mit Schindeln gedeckt und behangen, lehnte es sich an das Gebüsch und an die Hügelwand: ein einstöckiges Bauwerk mit einem Giebel.

»Da wohne und schlafe ich«, sagte Eilike, auf diesen Giebel deutend. »Aber nach hinten hinaus«, fügte sie hinzu. »Ein krummer Zweig reicht gerade an mein Fenster, und ich kann klettern. Hier unten wohnt mein Vater, Madam. Wir könnten drei Tage klopfen, und er machte doch nicht auf, wenn es ihm nicht gefällig wäre. Er hat soviel zu tun; und die Fensterladen macht er nie auf. Er arbeitet bei Licht – bei einem großen Feuer, er friert immer so sehr. Er hat sich selber einen Herd dazu gebaut. Aber seine Arbeitsstube ist auch nach hinten heraus. Da hat er die Wände eingeschlagen zwischen der Küche und der Kammer und sich eine große, große Werkstatt gemacht. Er kann alles, und die Leute im Dorfe wissen das auch, besser als der Herr Pate Scholten. Es ist unrecht, daß ich es sage, aber es ist doch so.«

»Das Kind hat recht, Frau Salome«, sagte der Justizrat. »Sie passen zueinander, die Leute im Dorf und mein braver Freund[330] Querian. Dieser würde sich auch sonst hier gar nicht halten. Das Kind hat ganz recht, und ich bin fest überzeugt, daß mehr als einer der Männer vom Leder hier des Nachts klopft und Einlaß findet, wo wir drei Tage vergeblich pochen würden Was wissen wir hellen Leute, Frau Salome, von den Mysterien der Narren, zumal wenn sie noch dazu ihre Tage bei ihrem Grubenlicht im Erdeingeweide verwühlen? Querian! Der König der Zwerge und Alraunen dürfte dreist Querian heißen. Wenn Sie demnächst uns einmal wieder besuchen, liebe Baronin, so fragen Sie, ehe Sie bei mir und der Witwe Bebenroth vorsprechen, in der ersten besten Bergmannshütte nach Herrn Querian und achten Sie gefälligst auf die Gesichter, mit denen man Ihnen den Weg zu seiner Behausung andeutet. Diese werden Ihnen das Verhältnis, in dem mein sonderbarer Freund zu der hiesigen Bevölkerung steht, deutlicher machen, als ich es durch die ausführlichsten Auseinandersetzungen und Erläuterungen vermöchte. Nicht wahr, Eilike, es kommen viele Leute aus dem Dorf, um sich Rat von deinem Vater zu holen, und sie bringen ihm auch allerlei, was sie in der Erde gefunden haben?«

»Die Bergleute kommen, Herr Pate«, antwortete Eilike geheimnisvoll mit dem Finger auf dem Munde. »Sie sind mein Herr Pate und dürfen mich fragen. Mein Vater kennt alle Steine und Erze und weiß gut Bescheid unter der Erde.«

»So!« sagte Justizrat Scholten, zu der Baronin von Veitor gewendet, »jetzt wissen Sie ziemlich genau Bescheid in dem, was meinen Gevatter am hiesigen Orte betrifft. Was sonst meinen Zusammenhang mit ihm anbetrifft, so kann ich Ihnen darüber das Nähere bei passender Gelegenheit beiläufig mitteilen. Wir hellen Leute lassen keine Mysterien gelten –«

»Und bleiben deshalb vielleicht so oft während der Feier der Eleusinischen Geheimnisse vor der Tür stehen!« rief die Baronin.

»Wahrscheinlich!« brummte der Justizrat; aber Eilike, der diese Unterhaltung allmählich sehr langweilig geworden war, rief nun plötzlich:

»Gute Nacht!« und sprang fort, um das Haus herum verschwindend.[331]

»Die Krabbe ist die Vernünftigste von uns allen«, murmelte Scholten. »Sie weist uns auf unsere Wege und weiß ihrerseits den Baumstamm und den Zweig, die sie zu ihrem Bette bringen, auch im Dunkeln zu finden. Es wird wahrlich Zeit, daß ich Sie auf die Landstraße geleite, Frau Baronin. Wir haben des Spukes für heute genug, und es fängt an, kühl vom Blocksberge herzublasen, und ich habe noch nach Pilsum zu schreiben. Sie haben mich ganz zur richtigen Stunde daran erinnert, Frau Salome, daß ich dem Freunde Schwanewede seit zwei Jahren einen Brief schuldig bin.«

»Das freut mich«, sagte die Baronin zerstreut, und ebenso zerstreut sagte sie: »Das Kind wird doch nicht den Hals brechen?«

»Ich hoffe nicht«, meinte der alte Scholten, und dann griff er von neuem nach dem Zügel des Maulesels und führte ihn zurück von der Tür Querians auf den holperichten Fußpfad, der vom Dorfe herüberführte. Er wußte sonst, wie wir auch schon erfahren haben, jeglichem Weggenossen die Zeit der Wanderung durch anmutige Unterhaltung zu verkürzen, doch jetzt ging er still und stieß nur dann und wann, wie um einen Punkt in seiner eigenen stummen Unterhaltung zu machen, mit dem Knotenstocke fest auf.

So brachte er seinen schönen Gast wieder auf die durch das Dorf führende große Straße und dann noch weiter ein gutes Stück Weges über das Dorf hinaus bis auf die Höhe des nächsten Bergrückens, wo die Chaussee sich über eine kürzlich abgeholzte Hochebene hinschlang. Das war eine gute halbe Stunde von seiner Behausung, und er nahm hier Abschied mit der Bemerkung:

»Jedem anderen Frauenzimmer zu Fuß, Pferd oder Esel würde ich die beiden übrigen Stunden zur Seite mitlaufen. Nehmen Sie das als ein Kompliment, liebes Herz, und kommen Sie gut nach Hause.«

Die Frau Salome lachte und schüttelte dem wunderlichen juristischen treuen Eckart von ihrem Maulesel herab die Hand.

»Das ist wahrlich ein wackerer Freund und braver Lebensgenosse, der aber sicherlich seinen Trost und eine schöne, lange Nachrede auch herausfinden würde, wenn man mich morgen nach[332] Sonnenaufgang, von Räubern erschlagen oder in einem Abgrunde samt meinem Esel, mit zerschlagenen Gliedern fände. Nun, grüßen Sie auch von mir unbekannterweise, wie man sagt, nach Pilsum. Ich muß doch noch einmal Von Norderney aus Ihren Freund Schwanewede kennenlernen. Den Querian gedenke ich mir in den allernächsten Tagen hervorzuholen. Ist das ein Kleeblatt – Scholten, Schwanewede und Querian! Und da soll man, den Brocken hinter sich, ruhig nach Hause gehen, sich zu Bett legen und einen guten Schlaf tun!«

»Dort kommt der Mond über den Berg, Frau Salome, und die Straße ist in einem ausgezeichnet guten Zustand und macht der Wegebaudirektion alle Ehre. Ich wünsche Ihnen recht wohl zu schlafen und werde mich morgen durch die Eilike nach Ihrem Befinden erkundigen.«

Sie nahmen jetzt wirklich Abschied. Der Justizrat schlug sich wieder durchs Dorf nach dem Hause der Witwe Bebenroth, und die Baronin ritt fürbaß auf der nicht ohne Grund gelobten Vortrefflichen Landstraße. Den Mond hinderte auch nichts auf seinem Wege quer über das Firmament, und er ging, als ob es ihm nie eingefallen sei, die Weltmeere in Bewegung zu setzen, geschweige denn die Gemüter der Menschen sich nach und zu sich emporzuziehen.

»O Himmel, welch eine wundervolle Nacht und welch ein wunderlicher Abend!« murmelte die Baronin Salome von Veitor und gelangte richtig ohne die mindeste Gefährde und Beschwerde vor dem zierlichen Gittertor ihrer Sommerwohnung an, und niemand unter ihren Leuten hatte sich irgendwelche Sorge um sie gemacht.

Quelle:
Wilhelm Raabe: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band 5, Berlin und Weimar 1964–1966, S. 329-333.
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