Zwey und Vierzigstes Kapitel.

[484] Wie die Prozeß zur Welt kommen und wie sie groß wachsen.


Derhalb temporisir ich nun, fuhr Gänszaum fort, wie ihr andern Herrn, so lang bis der Prozeß ganz reif und formiret ist in allen Gliedern, welches die Sätz und Akten sind. Arg. in l. si major. C. commun. divid. et de cons. di. 1. c. Solennitates. et ibi gloss.

Denn ein Prozeß, wann er zur Welt kommt, scheint mir, wie auch euch andern Herrn, unförmlich, roh und misgestalt. Wie ein junger neugeborener Bär weder Händ noch Füß, Haut, Haar, noch Haupt hat, nichts als ein roh unförmlich[484] Stück Fleisch ist, dem die Bärinn durch Lecken erst die Glieder formiret, ut not. Doct. ff. ad leg. Aquil. l. 2. in fin. also seh ich, gleichwie ihr andern Herrn, auch die Prozeß in ihrem Ursprung unförmlich ohn Glieder geboren werden; sind höchstens ein bis zwey Stück daran, sind noch zur Zeit nur wüste G'schöpf. Erst wann sie brav in Massen sich fassen, und Sack- und Stoßweis verpanzen lassen, kann man sie wahrhaft articulirt und formiret heissen. Denn forma dat esse rei l. si is qui ff. ad leg. Falcid. in c. cum dilecta. extra. de rescript. Barbat. consil. 12. lib. 2. und vor ihm Bald. in c. ult. extra. de consuet. et l. Julianus ff. ad. exhib. et l. quaesitum. ff. de leg. 3. Das Wie? lehrt gloss. pen. q. 1. c. Paulus.


Debile principium melior fortuna sequetur.


Wie ihr andern Herrn, so machen auch die Schergen, Häscher, Büttel, Anwäld, Schickanirer, Procuratoren, Commissarien, Advocaten, Inquisitoren, Registratoren, Tabellionen, Canzellisten, und Judices Pedanei, de quibus tit. est. lib. 3. Cod., indem sie fein hitzig und immer zu an den Beuteln der Kunden saugen, ihren Prozessen Köpf, Füß, Händ, Zähn, Schnäbel, Klauen, Adern, Venen, Nerven, Muskeln, Säft, das sind die Akten. Gloss. de cons. d. 4. accepisti.


Qualis vestis erit, talia corda gerit.


Hic. not. daß in diesem Stück die Parteien noch seeliger sind als die Diener der Gerechtigkeit. Denn beatius est dare quam accipere. ff. commun. l. 3. et extra. de celebra. Miss. c. cum Marthae. et 24. qu 1. c. Odi. gloss.


Affectum dantis pensat censura tonantis.


Also machen sie den Prozeß vollkommen, schmuck und wohl aussehend, wie's lehret gloss. canonica:


Accipe, sume, cape, sunt verba placentia Papae.
[485]

Welches Alber. de Ros. in verbo Roma noch deutlicher sagt:


Roma manus rodit, quas rodere non valet, odit.

Dantes custodit, non dantes spernit et odit.


Ursach warum?


Ad praesens ova, cras pullis sunt meliora.


ut est gloss. in l. Cum hi ff. de transact. Der Nachtheil aber des Gegentheils, stehet in gloss. C. de allu l. fin.


Cum labor in damno est, crescit mortalis egestas.


Das wahre Etymon des Prozesses ist: daß sein Projekt brav Zwist seyn muß: und han wir deßfalls unschätzbare Waidsprüchel: Litigando jura crescunt. Litigando jus acquiritur. Item gloss. in c. illud. extra. de praesumpt. et C. de prob. l. instrumenta. l. non epistolis. l. non nudis.


Et cum non prosunt singula, multa juvant.


Gut dann, frug Beitmaul; doch wie, mein Freund, verfahrt ihr in Criminalibus, wenn man den Schuldigen in flagrante crimine betreten hat? – Just wie ihr andern Herrn, sprach Gänszaum: Zu Eingang des Prozesses lass und heiss ich den Kläger fein tüchtig schlafen; drauf wiederum vor mir erscheinen mit gutem und gültigem Schlaf-Attest, nach der gloss. 37. q. 7. c. Si quis cum.
[486]

... Quandoque bonus dormitat Homerus.


Der Aktus zeugt ein neues Glied, dieß wieder eins, wie Masch für Masch das Panzerhemd gefertigt wird. Kurz, endlich seh ich meinen Prozeß durch Information formirt und in allen Gliedern wohl ausgewachsen. Itzt greif ich wieder zu meinen Würfeln. Und ist dieß nicht etwann von mir ohn Ursach also interpoliret, sondern steift sich auf guten Grund und notabele Erfahrung:

Ich entsinn mich eines Gasconiers, Gratianald mit Namen, bürtig von Sainsever; der hätt im Lager von Stockholm all sein Baarschaft im Spiel verloren. Darüber er dann höchlich erzörnt, (wie ihr wohl wißt: pecunia est alter sanguis, ut ait Ant. de But in c. accedens. 2. extra. ut lit. non contest. et Bald. in l. si tuis. C. de opt. leg. per tot. in l. Advocati. C. de advoc. div. jud. pecunia est vita hominis, et optimus fidejussor in necessitatibus;) am Eingang des Spiel-Zelts mit lauter Stimm all seine Kameraden anschrie und sprach: Kotts Kreuz, er Junga, uffg'schaut! döß ich dös Ubel zer Pfaifen schlog! öiz do i verthon hob mei verunzwanzi Heinz, gangs her, was kannst, uff Hieb und Stoß! wer sich eps mit mer fuochtla will. – Als ihm nun keiner drauf Antwort gab, ging er ins Lager der Hunderspunder und wiederholt' dieselbigen Wort und Ausfordrung zum Zweykampf mit ihm. Die aber sprachen: der Guascongner thut sich auß mit eim jeden zu schlagen, aber er ist geneigter zu stehlen; darumb, liebe Frauwen, habet Sorg zu euerm Haußraht. – Und keiner kam aus ihrer Schaar mit ihm zu fechten. Itzt geht der Gasconier ins Lager der fränkischen Ebentheurer, spricht wie zuvor, und ruft sie ganz kecklich, mit kleinen Gasconischen Gambaden zum Zweykampf auf; doch keiner antwort. Da legt sich[487] zuletzt der Gasconier am äussersten End des Lagers hin, dicht bey den Zelten des dicken Ritters Christian von Crissé, und schläft ein. Nicht lang, so kommt ein Ebentheurer, der gleichfalls all sein Geld verspielt hätt, mit seinem Schwert dahergelaufen, fest entschlossen mit dem Gasconier sich zu schlagen, weil er, wie er verloren hätt.


Ploratur lacrymis amissa pecunia veris


spricht gloss. de poenit. dist. 3. c. sunt plures. Und nachdem er ihn im Lager umher gesucht, fand er ihn endlich dort schlafen liegen. Spricht also zu ihm: holla Bursch! steh auf in des drey Teufels Namen. Mein Geld ist fort so gut wie deins. Itzt frisch vom Leder! daß wir uns das Fell brav gerben: und sieh auch zu ob nicht mein Sarras etwann länger als deine Plemp ist. – Darauf antwort ihm der Gasconier ganz verdutzt: Zum Haupt Sanct Arnalds! wär bischt du, der du mich wecken thouest? Ey daß dich doch das Schenken-Ubel neunmal im Kreis dreh! Ho San Siob Cap de Gascogn'! i schlief so schön, do kommt der Fratz her und seckirt mich. – Der Ebentheurer lud ihn aufs neu zum Zweykampf ein, er aber sprach: Ach du arms Bluet, i breech ders G'nick, itz do i ausg'schlofen hob. Goh hin, un leg die erst ä bissel ufs Ohr wie ich, hernacher wolln mier uns schlaga. – Mit dem Gedächtniß seines Verlusts hätt er die Lust zum Raufen verloren. Kurz, statt sich zu schlagen und etwann einer dem andern das Lebenslicht auszublasen, gingen sie hin und tranken zusamen, ein jeder auf sein verpfändet Schwert. So gut meint' es der Schlaf mit ihnen, durch den die brennende Mordbegier der zwey edeln Kämpen besänftigt ward. Da paßt wohl her das güldene Wort des Joann. And. in. cap. ult. de [488] sent. et re judic. libro sexto: Sedendo et quiescendo fit anima prudens.

Quelle:
Rabelais, Franz: Gargantua und Pantagruel. 2 Bände, München, Leipzig 1911, Band 1, S. 484-489.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gargantua und Pantagruel
Gargantua. Pantagruel
Gargantua und Pantagruel, 2 Bände
Gargantua und Pantagruel
Gargantua und Pantagruel, in 2 Bdn.
Gargantua und Pantagruel

Buchempfehlung

Jean Paul

Die unsichtbare Loge. Eine Lebensbeschreibung

Die unsichtbare Loge. Eine Lebensbeschreibung

Der Held Gustav wird einer Reihe ungewöhnlicher Erziehungsmethoden ausgesetzt. Die ersten acht Jahre seines Lebens verbringt er unter der Erde in der Obhut eines herrnhutischen Erziehers. Danach verläuft er sich im Wald, wird aufgegriffen und musisch erzogen bis er schließlich im Kadettenhaus eine militärische Ausbildung erhält und an einem Fürstenhof landet.

358 Seiten, 14.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon