An eine Exnonne

[138] Nach dem Französischen des d' Hermitte de Maillane.


Wien im May 1784.


Du rühmst umsonst, o Gottgeweihte! Mir

Der Unschuld Reitz, und tadelst meine Wege.

Dein Mund verdammt die leiseste Begier,

Und ach! dein Blick macht ihrer tausend rege.


Du heissest mich den Keim der Sinnlichkeit

Durch Reu' und Leid aus meinem Herzen reuten:

Mir aber thut im Grund der Seele leid,

Dass nichts vermag, zur Sünde dich zu leiten.


Du sprichst, es sey des Erdepilgers Pflicht,

Dass er dem Drang der Sinne widerstehe.

Das weiss ich wohl: allein ich glaub' es nicht,

So lang' ich dich mir gegenüber sehe.
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Wenn mich dein Mund der Tugend Pflichten lehrt,

So wünscht mein Herz, du glaubtest meinen Lehren.

Längst hätte mich dein Eifer schon bekehrt,

Glaubt' ich nicht stäts, du würdest dich bekehren.


Lobpreisest du den Schöpfer der Natur,

O so vergess' ich seiner Macht und Stärke

Bey deinem Lob, und denke staunend nur

An dich allein, du schönstes seiner Werke!


Ich wünsche nie, so rühmlich auch die Bahn

Zum Himmel ist, als Heiliger zu schimmern;

Der, den du liebst, ist hier zu wohl daran,

Um sich noch viel um jene Welt zu kümmern.

Quelle:
Joseph Franz Ratschky: Gedichte, Wien 1791, S. 138-140.
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