Der lockere Chorherr

[230] Nach dem Französischen.


Wien im März 1786.


Aus der Chorherrnschaar des alten

Kirchenlehrers Augustin,

Der, bis seine Mutter ihn

Schärfer in der Zucht gehalten,

Auch kein Mädchen von sich stiess,

Gab ein junger lockrer Priester

Satans üppigem Geflüster

Nach und nach Gehör, und liess

Sich mit einem schönen Kinde

In ein Liebsverständniss ein.

Lucifern die Nacht zu weihn,

Wäre, dacht' er, keine Sünde,

Wenn man nur die Morgenzeit

Gott und seinem Dienste weiht.
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Als des Chorherrn Liebeshandel

Seinem Abt zu Ohren kam,

Fragt' er ihn, ob solch ein Wandel

Mit der Keuschheit, Zucht und Scham

Und der Regel sich vertrage.

Aufgebracht durch diese Frage,

Sprach der Chorherr rasch und kühn:

Ich weiss meinen Augustin

Selbst und besser auszulegen,

Als so manches Kirchenhaupt,

Das der stolzen Insel wegen

Mehr als ich zu wissen glaubt.

Das, was unsers Ahnherrn Lehren

Feyerlich für Sünd' erklären,

Billigt seine Lebensart;

Denn er ist, wie ich gelesen,

Vater eines Kinds gewesen,

Eh' er Kirchenvater ward.

Quelle:
Joseph Franz Ratschky: Gedichte, Wien 1791, S. 230-232.
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