An einen Rangsüchtigen

[232] Wien im May 1786.


Bene qui latuit, bene vixit.

Ovid.


Freund, willst du, Thoren gleich, die, um vergnügt zu seyn,

Der wandelbaren Gunst des blinden Glücks bedürfen,

Erträumter Möglichkeit und täuschenden Entwürfen

Der Zukunft deine Tage weihn?


Sey klüger, und geniess des Daseyns kurze Frist,

Statt sie mit nichtigen Phantomen zu verträumen!

O sieh! der Lenz beginnt. Sieh, wie den Ahornbäumen

Das jugendliche Laub entspriesst!
[233]

Horch! Lerch' und Nachtigall verkünden rings umher

Den frohen Wonnemond helltrillernd durch die Lüfte:

Der Weste lauer Hauch, der Blühten Balsamdüfte

Sind Boten seiner Wiederkehr.


Sieh! alles, was sich regt, was auf beblümter Flur,

Im hohen Luftrevier, im Wasserreiche lebet,

Was rings im weiten Raum der Schöpfung Odem hebet,

Freut sich der Anmuth der Natur.


Die Freude beut auch dir ihr reiches Füllhorn dar:

Lass nach der Grösse Tand des Stolzes Knechte dürsten!

Vergnügen sey dein Ziel, nicht schnöde Gunst der Fürsten,

Die stäts des Grams Gefährtinn war!
[234]

Sieh jenen Höfling an! des Sturzes Bild umschwebt

Prophetisch seinen Blick: der bangen Ahnung Leiden

Verbittern stündlich ihm die unbefangnen Freuden,

Die der nur kennt, der sorglos lebt.


Drum zähme deinen Wunsch! leb' als ein freyer Mann!

Was man nicht sehnlich sucht, vermisst man ohne Sorgen.

Der Weise lässt durch nichts sich fesseln, was ihm morgen

Des Zufalls Laune rauben kann.

Quelle:
Joseph Franz Ratschky: Gedichte, Wien 1791, S. 232-235.
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