Esther

[570] Die Dienerinnen kämmten sieben Tage

die Asche ihres Grams und ihrer Plage

Neige und Niederschlag aus ihrem Haar,

und trugen es und sonnten es im Freien

und speisten es mit reinen Spezereien

noch diesen Tag und den: dann aber war
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die Zeit gekommen, da sie, ungeboten,

zu keiner Frist, wie eine von den Toten

den drohend offenen Palast betrat,

um gleich, gelegt auf ihre Kammerfrauen,

am Ende ihres Weges Den zu schauen,

an dem man stirbt, wenn man ihm naht.


Er glänzte so, daß sie die Kronrubine

aufflammen fühlte, die sie an sich trug;

sie füllte sich ganz rasch mit seiner Miene

wie ein Gefäß und war schon voll genug


und floß schon über von des Königs Macht,

bevor sie noch den dritten Saal durchschritt,

der sie mit seiner Wände Malachit

grün überlief. Sie hatte nicht gedacht,


so langen Gang zu tun mit allen Steinen,

die schwerer wurden von des Königs Scheinen

und kalt von ihrer Angst. Sie ging und ging –


Und als sie endlich, fast von nahe, ihn,

aufruhend auf dem Thron von Turmalin,

sich türmen sah, so wirklich wie ein Ding:


empfing die rechte von den Dienerinnen

die Schwindende und hielt sie zu dem Sitze.

Er rührte sie mit seines Szepters Spitze:

... und sie begriff es ohne Sinne, innen.

Quelle:
Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Band 1–6, Band 1, Wiesbaden und Frankfurt a.M. 1955–1966, S. 570-571.
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