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[281] O Welt, Ich muß dich lassen, u.s.w.
1.
O Vatter, groß von Gnaden,
Ich bin mit Angst beladen,
Auf, auf, erbarm dich Mein!
Du hast Mir ja verheissen,
Aus Nöhten Mich zu reissen
Und stets Mein Gott zu sein.
2.
Dein Sohn ist Mir gegeben,
Daß Ich sol ewig leben
In grosser Herrligkeit.
Ich komm' in solchem Glauben:
Kein Feind' kan Mir abrauben
Das, was Mein Hertz befreit.
3.
Du wirst üm Jesu willen
Aus Gnaden das erfüllen,
Was du Mir zugesagt:
Drauff nim in deine Hände
Mein Seelichen am Ende,
Das nach dem Himmel fragt.
4.
O Jesu, deine Wunden,
Die du für Mich empfunden,
Vermindern Mir die Pein.
Ich bitte dich von Hertzen:
Laß ferner deine Schmertzen
Mein' Hülff' im Sterben sein.
5.
Ein Mensch bist du gebohren:
Wie kan denn sein verlohren
An Mir dein theüres Bluht,
Dem gahr nichts zu vergleichen?
Ach laß doch nimmer weichen
Von Mir diß höchste Guht!
6.
Ich bleib', ob Ich gleich scheide,
Ein Schäflein deiner Weide,
Das weist du, treüer Hirt.
Ach mücht' Ich bald dich sehen!
Ach mücht' Ich bald dort stehen,
Wo man verklähret wird!
[281]
7.
O Tröster der Betrübten,
O Geist der Kreützgeübten,
Gib Meiner Seelen Krafft.
Wenn Satan Mich wil plagen,
So laß Mich nicht verzagen,
Werd' Ich gleich hingerafft.
8.
Gedultig laß Mich leiden
Und drauff im Glauben scheiden:
Herr, stärke Muht und Sinn.
Ich wil im Friede fahren,
Du wirst Mich auch bewahren,
Wenn Ich entschlaffen bin.
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