Vom Hacherl, der auf dem Tische saß.

[190] Wenn ich mein bißchen Schneiderzeit nicht leicht genommen hätte, so wäre sie wahrscheinlich recht schwer gewesen. Das Beste daran war, daß ich solches Handwerk freiwillig wie es aufgenommen worden, wieder wegwerfen konnte. Kein Lehrbrief bannte mich, kein Handschlag. Form rechtens war ich nie aufgenommen worden von meinem Meister. Die Zunft wußte gar nichts von mir. Ich könnte heute meine Schneiderzeit anders nicht beweisen, als daß ich mich hinsetzte und der Jury eins vornähte. – »Wenn du willst, so bleib' da,« hatte damals mein Meister Ignaz gesagt und das war die Ausnahme. »Wenn ich will, so gehe ich wieder,« sagte ich mir selbst, wenn es manchmal ungut schien, und das war mein Trost. Weil ich solchergestalt auch als Lehrling frei war, so blieb ich, fügte mich in alles. Ich hatte nichts zu hoffen, wenn ich blieb, nichts zu fürchten, wenn ich ging und auch umgekehrt. Meine Schneiderzeit war nichts als ein Warten auf die gebratenen Vögel, die in den Mund fliegen.

Der Meister war engelsgut, die Gesellen aber waren oft des Teufels gewesen. Der lange Christian mit der göttlichen Phantasie, der philosophische Toni, Hacherl der Spiritist, der Mährer, der immer im Heiraten umging, der Schweizer, der sich selbst versteigerte, das waren,[191] nach diesen Eigenschaften geschätzt, gar drollige Genossen, in der Werkstatt gefielen sie mir weniger. Der Hacherl war ein Ehrenmann. »Auf Wort und Handschlag!« sagte er. Wenn man sein Wort einmal überhörte, so war auch schon der Handschlag da. Er hatte bei vielen Meistern herumgearbeitet und war mit seinen ausnehmend plumpen Gliedern der Schreck der Lehrlinge. Für sein etwas spärlich bepflanztes Herrscherhaupt hätte er sich die üppigste Perücke machen lassen können aus den jungen Haaren, die er den Lehrlingen gerodet hatte. Lehrlinge waren diesem Manne zu dumm, er pflegte geistreicheren Umgang mit Slivovitz, Rosoglio, Kirschgeist, Weichselgeist und anderen Geistern, weshalb er sich mit Recht einen Spiritisten nennen konnte. Er hielt sich eingestandenermaßen nur noch an den Geist, weil er bisher keinen Leib gefunden hatte. Die Rulla Eishartsteinerin im Brettelhof war eine, die alle bösen Geister aus ihm hätte vertreiben können. Ihrem Namen nach hätte man nicht geahnt, wie warm und weich die sein konnte, die Rulla Eishartsteinerin; so behauptete der Hacherl – ich weiß nichts.

Der Meister hatte uns nur ungern allein gelassen, damals beim Jägerwirt am Alpsteig, um dort den Rest der Ster auszuarbeiten. Er hatte es zwar gern, wenn sehr genau und sorgfältig gearbeitet wurde, aber auf einer Wirtshausster pflegte es der Geselle Hacherl etwas gar zu gewissenhaft zu nehmen mit den Knopflöchern und den Passepoilieren, so daß kein Ende ward und immer noch ein Krügel Jausenwein aufgetragen werden mußte, bevor die Ster zu Rande geschneidert war. Wir saßen also in der Wirtsstube beim Jäger am Alpsteig; ganz vorne[192] am »Herrentisch« hatten wir die Werkstatt aufgeschlagen, weil es dort das beste Licht gab. Die Hausleute waren im Heuen, auch die Kellnerin, denn an solchem Werktage kommt kein Gast ins Wirtshaus in jener braven, sparsamen Leutgegend. Der Hacherl warf seinen Loden weg, stand auf und visitierte den Gläserkasten. Nichts! Alle Flaschen, Stutzen, Krüge und Kelchlein umgestülpt. Und während er so auf der Geisterbirsche war und mir die Abachseite zuwendete, erinnerte mich mein Gewissen daran, daß es doch Christenpflicht sei, dem Gesellen einmal Bericht zu erstatten, wie es bei ihm auf der anderen Hemisphäre aussehe! Schon seit Wochen war das mausgraue Tuch seines Sitzteiles arg zerschlissen, nun aber begann die »Weisheit« herauszugucken an Stellen, wo sie entschieden nicht drinnen sein konnte. Das habe ich ihm brüderlich mitgeteilt. Beinahe gab es wieder Wort und Handschlag, doch besann er sich, daß es eigentlich und streng genommen nicht schuld des Lehrlings sein könne, wenn dem Gesellen das Beinkleid schleißt und zerreißt, ferner daß in dem Hause gute Reste und Flicken übriggeblieben und daß dieser traulich einsame Nachmittag die schönste Gelegenheit wäre, leibeigene Hosen zu flicken. Rasch zog er die Grautuchene über das Schuhwerk herab, setzte sich mit flatterndem Hemde an seinen Wandplatz hinter den Tisch und begann, die Une aussprechlichen zu reformieren.

Hatte aber mit seinen Reformbestrebungen kein besonderes Glück. Fürs erste schnitt er den Flicken zu klein, so daß er stückeln mußte. Dann kollerte ihm der Fingerhut unter den Tisch, und als er sich danach bückte, stieß er den Kopf an die Kante. Als sich endlich gar noch der[193] Zwirn zu schlingeln begann, was bei einer Bräutigamhofe das allerschlimmste Zeichen gewesen wäre, schmetterte er mir zu: »Deine verdammten Glotzer! Die machen mich ganz irr!« und schleuderte mir das Zeug an den Kopf. Ich legte es ihm ruhig wieder zurück, hatte ohnehin meine Arbeit, das Beknopfen einer Weste, und sein Beinkleid ging mich nichts an.

Jetzt ging die Stubentür auf, Gäste traten herein, Der Tippelberger und der Hesch vom Zaun mit seinem Weib, und der Kumpfrüppel und der Wagner Sepp und die Hanselhöferin und ihre Schwester, die rote Minna, und der Eishartsteiner mit seinem Weibe und ihrer Tochter Rulla. Sie hatten Bündel und bekränzte Stöcke bei sich, kamen von Mariazell und wollten jetzt ein halbes Stündlein vor ihren Behausungen noch ein wenig einkehren. Der Hacherl ließ hastig seine Flickarbeit unter den Tisch fallen, hob sie aber wieder auf, weil keine andere Beschäftigung vorhanden war. Aufstehen hätte er sollen und jene Eintretenden begrüßen, an die er ja demnächst mit der Brautwerbung herantreten wollte; man kann sich's wohl denken, weshalb er die schicksame Artigkeit unterließ. Er war außer sich, weil er außer der Hosen war und er mußte mit außerordentlicher Geschicklichkeit seine Arbeit handhaben, um sich keine Blößen zu geben. Nicht einmal das Haupt hob er, mit gewaltiger Emsigkeit nähte er, weil jetzt Werktag wäre und nicht Zeit, mit Wallfahrern umzutun.

»Ho so!« sagte der eintretende Eishartsteiner, »da sind die Schneider daheim. Da müssen wir uns doch ein Brösel zum Schneidertisch setzen.« Sie kamen schon heran mit langsamen, unaufhaltsamen Schritten. Da[194] rief mir der Hacherl zu: »Biegeln geh'! Erzschlingel, fauler!«

Ich verstand ihn. Sprang auf, riß das Bügeleisen vom Nagel, warf die Weste auf den Tisch und bügelte mit dem eiskalten Eisen drauflos, daß alles krachte. Dabei nahm ich natürlich den ganzen Tisch in Anspruch, deckte und schützte gleichzeitig den Gesellen, der an der Wand saß, und die Gäste mußten sich an einem anderen Tisch niederlassen, wo ihnen die mittlerweile angekommene Kellnerin Obstmost und Semmeln vorsetzte.

Der Hacherl kroch, als ob ihm etwas hinabgefallen wäre, unter den Tisch, kam aber unverrichteter Dinge wieder zurück, denn der Raum im Dunkeln mar zu enge, als daß er in der Hut desselben seine Beine in die Hosen zu bringen wußte. Er saß, das Beinkleid auf dem Schoß, wieder zusammengebückt da und nadelte stürmisch.

Die Wallfahrer mochten von der weiten Reise müde sein, lange blieben sie sitzen. Das Beinkleid war längst fertig geflickt, der Hacherl aber nadelte und nadelte daran, als ob die ewige Freud' und Seligkeit anzunadeln gewesen wäre. Denn wie hätte es anders sein können, daß er als angewachsen dasaß und nicht hinging, der guten Rulla die Hand zu drücken! Die Rulla war des ein wenig verstoßen. Sie hatte ihm wohl ein hübsches Zellermünzlein mitgebracht mit rotem Bändchen zum um den Hals hängen, und er schneidert da in den Tag hinein, als ob sie gar nicht auf der Welt wäre. Ich bügele und bügele, und als mein Finger mir zufällig aus Eisen stupst, tu' ich ein: »Auweh!« als ob es weiß Gott wie heiß wäre.

Nun kam noch ein Gast. Der Fleischhauer Franzel[195] aus Krieglach. Der hatte die weiße Schürze um den Bauch geschlungen und hinter sich den großen Zottelhund, mit dem er die Kälber zu treiben pflegte. Als dieses Ungeheuer, der Zottel, langsam die Stube herauskam, merkte ich, wie mein armer Hacherl unter leisem Angstgestöhn die Beine an sich zog, so nahe als es möglich war, ohne sie auf den Tisch zu bringen! Der Franzel erzählte den Bauern sofort eine Neuigkeit: »Die Düppler Schanzen sind gefallen!«

»Ist ja nix mit dem Schleswig-Holsteiner-Krieg!« entgegnete der Eishartsteiner.

»Eben derwegen werden die Kälber wohlfeiler,« sagte der Fleischhauer. »Denn warum? Weil wir jetzt die Kälber von Dänemark herkriegen.«

Der Bauer bestritt das, sie kamen ins Politisieren, kamen auf den General Gablenz, auf Napoleon den Dritten, auf Otto Bismarck, den preußischen Minister, auf das tapfere steirische Regiment König der Belgier, auf die Staatsschulden und endlich wieder auf die Kälber. Der Eishartsteiner hatte ein paar und der Franzel feilschte drum. Noch nicht ganz waren sie handelseins, als mein Hacherl plötzlich einen durchdringenden Schrei ausstieß und auf den Tisch sprang. Am Wallfahrertisch ein Kreischen und ein schallendes Gelächter. Der Hacherl aber renommierte gröhlend: »Die Hundsbestie hat mich in die Waden gebissen!«

»Hinaus! Hinaus den Hund!« schrie er zornmütig, während auch ich mich auf die Bank geschwungen hatte. »Der Zottel hat ihm das Beinkleid herabgerissen! Ganz herab! Vors Gericht mußt, Fleischhacker, mit deinem Hund!« Dabei zermarterte sich mein Gehirn, womit[196] man nur den armen Gesellen, der mit den Oberkleidern notdürftigst die unteren Ausläufer seiner Person bedeckte und der wie ein Häuflein Unglück auf dem Tische kauerte, womit man ihn nur bedecken könnte! Es war nichts da, nicht einmal der bewußte Mantel der christlichen Liebe war vorhanden, mit dem man menschliche Blößen sonst zu verhüllen pflegt.

»Das ist abgekartet, du Bösewicht!« schnob der Hacherl nach mir, und wand sich wie eine frierende Schnecke, die das Häusel verloren hat.

Mittlerweile kam die Kellnerin und warf eine wuchtige Bettdecke über den Armen. Die Wallfahrer hatten schon ihre Krüge genommen und waren, den Zottel vor sich hertreibend, hinausgegangen, damit der Schneider ruhig wieder in Ordnung kommen könne. Ich aber flüsterte dem verschleierten Bilde zu: »Abgekartet ist es nicht. Herentgegen eine Straf' Gottes ist es, weil du die Lehrbuben so hudelst.« Daraus mögest du ersehen, mein Leser, wie boshaft ich schon damals gewesen bin, als Mensch von zwanzig Jahren!

Dann aber bin ich hinausgegangen, damit auch von meiner Seite seiner Wiedergeburt nichts entgegenstünde. Die Rulla war auch bösartig, denn sie kicherte noch lange Dann verzogen sich die Wallfahrer, auch der Fleischhauer Franzel machte sich auf und die Kellnerin ging wieder ins Heu und ich bin allein übriggeblieben vor der Türe des Jägerwirtes. Und nun? Nun soll ich doch wieder hinein zum Hacherl! Wie wird das werden? Wenn nur der Zottel noch da wäre!

Wohl eine halbe Stunde mochte ich dagestanden sein, ehe der erforderliche Mut gesammelt war. Endlich[197] eintretend ließ ich für alle Fälle die Tür hinter mir weit offen. In der Stube war es totenstille – auf dem Tische lag noch der Wulst. Wie angewachsen stehe ich da und starre hin.

Der Schneider ist davon! –

Ist davongegangen, nie wieder in die Gegend gekommen, wo er vor aller Augen einmal auf dem Tisch gesessen in jener wahren Wesenheit, die sonst einer dem andern so hartnäckig verleugnet.

Quelle:
Peter Rosegger: Waldheimat. Band 3: Der Schneiderlehrling, Gesammelte Werke von Peter Rosegger, Band 16, Leipzig 1914, S. 190-198.
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