Die Lyrik

Ob auch ein überkluges Geschlecht

Dich belächelt als Unverstand;

Ob der banausische Schwarm,

Der in den Tempel der Kunst sich drängt,

Um bei des Altars heiliger Flamme

Mahlzeit zu halten,

Dir, weil du den Mann nicht nährst,

Hochmüthig den Rücken kehrt,

Indeß ein Heer frecher Stümper

Dich entweiht zu nichtigem Spiel:

Immer und ewig

Bleibst du, hochaufstrebende Lyrik,

Blüthe und Krone der Dichtkunst.


Denn überall sonst befehden sich Stoff und Form,

Und der Meister selbst,

Der den Zwiespalt zu lösen scheint,

In tiefster Brust empfindet er

Vor dem beendeten Werk

Vorwurfsvollen Mißklang

Des Unbewältigten.[107]

Du aber, athmend reinster Empfindung Hauch,

Folgst in sanften Rhythmen

Willig dem Geist

Und lenkst ihn zuletzt,

Da du Worte hast für das Unsagbare,

Siegreich hinan zu ahnungsvollster Erkenntniß.

Und wie du der Freude Höhen

Als leuchtendste Rose schmückst,

Blühst du auch, schwermuthsvoll,

Als Passiflore hervor

Aus den Abgründen des Lebens.

Quelle:
Ferdinand von Saar: Gedichte, Heidelberg, (2) 1888, S. 105-108.
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