70. Die Entstehung des Seeburger Sees.

[49] Da wo jetzt der Seeburger See sich ausbreitet, hat vor Zeiten ein stattliches Schloß gestanden, welches ein breiter und fischreicher Graben umfloß, über den eine Zugbrücke führte. Das Schloß und viele Ländereien ringsum gehörten einem Grafen Namens Isang. Dieser führte einen schändlichen und gottlosen Wandel; er raubte schöne Jungfrauen, zwang sie zu seinem Willen und schickte sie dann nach einigen Tagen wieder aus dem[49] Schlosse fort. Auch die übrigen Bewohner des Schlosses waren eben so ruchlos und schlecht, wie der Graf selbst. Der Graf hatte, ohne daß er darum wuste, eine Schwester, die im Kloster zu Lindau lebte; wohl aber wuste sie, daß der Graf ihr Bruder sei. Diese holte er nun mit seinen Leuten gewaltsam aus dem Kloster und brachte sie auf sein Schloß, wo sie seiner schnöden Lust dienen sollte. Doch Gott verwirrte seinen Geist, so daß er ihr nichts zu Leide zu thun vermochte. Seine Schwester aber flehte zu Gott, daß er alle Thiere der Welt von den Schandthaten ihres Bruders erzählen lassen möchte. Da begab es sich, daß in dem Schloßgraben ein weißer Aal gefangen wurde, den der Koch für den Grafen zubereiten muste. Als der Graf den Aal gegessen hatte, verstand er den Hahnenschrei und hörte, wie dieser rief: Graf Isang, eile, deine Burg geht unter; und dann wieder: willst Du dein Leben retten, so setze Dich auf dein schnellstes Roß. Als der Hahn das erste Mal rief, achtete der Graf der Warnung noch nicht, als jener aber zum zweiten Male warnte und immerfort rief: eile, eile, eile! da sattelte er eiligst sein bestes Roß, warf sich darauf und wollte fort sprengen. In demselben Augenblick aber faßte der Diener, welcher den Aal aufgetragen und, weil er heimlich ein Stück davon gegessen, ebenfalls den Hahnenruf verstanden hatte, das Pferd am Schwanze, um sich so mit zu retten. Doch der Graf hieb ihm mit seinem Schwerte beide Arme ab und so muste er zurückbleiben. Dann sprengte er fort, während der Hahn krähte: sieh dich nicht um, sonst kommst du um, und entkam so allein dem Verderben. Als er bei Berenshausen die Höhe des Meelenberges hinanritt, fühlte er den Boden unter sich wanken (schuddern); erst oben auf der Höhe wagte er es sich umzuschauen und sah nun, wie eben die Spitze des Schlosses versank. Von da wandte er sich nach Gieboldehausen, woselbst er bedeutende Besitzungen hatte, und führte fortan ein gottseliges Leben. Die acht Hufen Landes, welche er vor Seeburg gehabt hatte, bestimmte er den Armen in der Weise, daß von einem Morgen im Winterfelde zwei Scheffel Roggen, im Sommerfelde zwei Scheffel Hafer, im Brachfelde aber nichts gegeben werden solle. Zugleich hatte er erklärt, »wer auf das Land mehr setze«, mit dem werde er am jüngsten Tage zu Gerichte gehen. Dennoch müssen die Leute jetzt vom Morgen fünf Scheffel geben. Jene acht Hufen heißen Koland (Kaland?) und[50] von dem Ertrage derselben, der zum Theil an die Schule in Heiligenstadt fällt, zum Theil mehreren Geistlichen zukommt, wird auch die Vergütung für die Gebete bezahlt, die noch alle vier Wochen für des Grafen Seele gehalten werden.

Quelle:
Georg Schambach / Wilhelm Müller: Niedersächsische Sagen und Märchen. Göttingen 1855, S. 49-51.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Niedersächsische Sagen und Märchen
Niedersächsische Sagen und Märchen : Aus dem Munde des Volkes gesammelt und mit Anmerkungen und Abhandlungen herausgegeben. Nachdruck 1979 d. Ausgabe Göttingen 1855.