Serafina an ihren Schutzgeist

[423] Mein Engel, den ich

Vom Himmel erbat

Zu leiten mich hier

Auf dornigem Pfad,

Zu führen mich einst

Ins wonnige Land,

O lächle mir, Bote,

Vom Himmel gesandt.


Oft hab' ich geweint,

Oft hab' ich geklagt,

Daß hier so der Wurm

Das Röslein zernagt,

Daß Unschuld, so rein,

Wie Himmelskrystall,

Oft plötzlich sich neigt

Zum tödlichen Fall.


O Engel, sei mir

Vor Tausenden hold

Und hülle mich ein

In Flügel von Gold.

Noch bin ich so jung

Und kenne noch nicht

Der Lüste Betrug

Im schlauen Gesicht.


Wenn Eitelkeit oft

Mit Blümlein mich neckt,

Und unter dem Strauß

Die Schlange versteckt;[423]

Wenn Thorheit mich sucht

So eile geschwind

Und warne mich selbst,

Du himmlisches Kind.


Wenn Amor mir winkt

Mit frechem Gesicht,

Und höhnisch verlacht

Die heilige Pflicht;

Mein Engel, so schlag

Die Flügel so laut,

Bis Amor entflieht

Und bis er mir graut.


Doch sitz' ich allein

Am goldnen Klavier

Und sing' ich ein Lied,

Mein Engel, von dir;

So säus'le in mich

Dein Himmelsgefühl

Und rüste mit Kraft

Mein goldenes Spiel.


Wenn Andacht mein Herz

Zum Himmel erhebt,

Daß unter der Faust

Der Flügel erbebt,

So öffne du mir

Die künftige Welt,

Bis glühend vom Aug'

Die Zähre mir fällt.


Einst drückest du mir

Zur ewigen Ruh'

Mit Fingern von Duft

Die Aeugelein zu.

Dann stürz' ich dir, ach!

Von Seligkeit warm

Als deine Vertraute,

Mein Engel, in Arm.[424]


Dann lächelst du mir,

Dann nennst du mich Braut,

Und küssest mich sanft

Und himmlisch vertraut,

Und führest mich selbst

An rosiger Hand,

Du Bote des Herrn,

Ins wonnige Land.

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Gedichte. Leipzig [o.J.], S. 423-425.
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