Erste Szene

[547] Heide. Sturm, Donner und Blitz.


Kent und ein Ritter von verschiedenen Seiten treten auf.


KENT.

Wer ist da, außer schlechtem Wetter?

RITTER.

Ein Mann, gleich diesem Wetter, höchst bewegt.

KENT.

Ich kenn' Euch; wo ist der König?

RITTER.

Im Kampf mit dem erzürnten Element.

Er heißt dem Sturm die Erde wehn ins Meer,

Oder die krause Flut das Land ertränken,

Daß alles wandle oder untergeh';

Rauft aus sein weißes Haar, das wüt'ge Windsbraut

Mit blindem Grimm erfaßt und macht zu nichts.

Er will in seiner kleinen Menschenwelt

Des Sturms und Regens Wettkampf übertrotzen.

In dieser Nacht, wo bei den Jungen gern

Die ausgesogne Bärin bleibt, der Löwe

Und hungergrimm'ge Wolf gern trocken halten

Ihr Fell, rennt er mit unbedecktem Haupt

Und heißt, was immer will, hinnehmen alles.

KENT.

Doch wer ist mit ihm?

RITTER.

Der Narr allein, der wegzuscherzen strebt

Sein herzerschütternd Leid.

KENT.

Ich kenn' Euch, Herr,

Und wag' es, auf die Bürgschaft meiner Kunde,

Euch Wicht'ges zu vertraun. Es trennt ein Zwiespalt –

Wiewohl sie noch den Schein davon verhüllen

In gleicher List – Albanien und Cornwall.

Sie haben – so wie jeder, den sein Stern

Erhob und krönte – Diener, treu zum Schein,[547]

Die heimlich Frankreichs Spione sind und Wächter;

Belehrt von unserm Zustand, allen Händeln

Und Zänkerei'n der Fürsten; von

Dem schweren Joch, das beide auferlegt

Dem alten König; von noch tiefern Dingen,

Wozu vielleicht dies nur ein Vorspiel war: –

Doch ist's gewiß, von Frankreich kommt ein Heer

In dies zerrißne Reich, das schon, mit Klugheit

Benutzend unsre Säumnis, heimlich fußt

In unsern besten Häfen und alsbald

Sein Banner frei entfaltet. Nun für Euch:

Wagt Ihr's, so fest zu bauen auf mein Wort,

Daß Ihr nach Dover gleich enteilt, so findet

Ihr jemand, der's Euch dankt, erzählt Ihr treu,

Welch unnatürlich sinnverwirrend Leid

Des Königs Klage weckt.

Ich bin ein Edelmann von altem Blut,

Und weil ich Euch als zuverlässig kenne,

Vertrau' ich Euch dies Amt.

RITTER.

Ich werd' Euch weiter sprechen.

KENT.

Nein, das nicht –

Und zur Bestät'gung, ich sei Größres als

Mein äußrer Schein, empfangt die Börs' und nehmt,

Was sie enthält. Wenn Ihr Cordelien seht –

Und daran zweifelt nicht –, zeigt ihr den Ring,

Und nennen wird sie Euch den Freund, des Namen

Euch jetzt noch unbekannt. Hu, welch ein Sturm! –

Ich will den König suchen.

RITTER.

Gebt mir die Hand: Habt Ihr nicht mehr zu sagen?

KENT.

Nicht viel, doch, in der Tat, das Wichtigste:

Dies, wenn den König wir gefunden – Ihr

Geht diesen Weg, ich jenen –, wer zuerst

Ihn antrifft, ruf's dem andern zu.


Sie gehn nach verschiedenen Seiten ab.[548]


Quelle:
William Shakespeare: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 4, Berlin: Aufbau, 1975, S. 547-549.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
König Lear
König Lear
King Lear / König Lear [Zweisprachig]
König Lear /Macbeth /Timon von Athen
König Lear: Zweisprachige Ausgabe
König Lear / Macbeth: Dramen (Fischer Klassik)

Buchempfehlung

Chamisso, Adelbert von

Peter Schlemihls wundersame Geschichte

Peter Schlemihls wundersame Geschichte

In elf Briefen erzählt Peter Schlemihl die wundersame Geschichte wie er einem Mann begegnet, der ihm für viel Geld seinen Schatten abkauft. Erst als es zu spät ist, bemerkt Peter wie wichtig ihm der nutzlos geglaubte Schatten in der Gesellschaft ist. Er verliert sein Ansehen und seine Liebe trotz seines vielen Geldes. Doch Fortuna wendet sich ihm wieder zu.

56 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon