Vierzehntes Kapitel.

[160] Mehrere Tage lang ließ sich Chilon nach diesen Ereignissen nirgends blicken. Vinicius, den es seit dem Tage, wo er von Akte erfahren hatte, Lygia liebe ihn, noch weit mehr verlangte, sie zu finden, begann seine Nachforschungen auf eigene Hand, da er die Hilfe des Caesars weder in Anspruch nehmen wollte noch konnte, der zu sehr mit seiner Sorge um die Gesundheit der kleinen Augusta beschäftigt war.

Doch halfen weder die in den Tempeln dargebrachten Opfer, noch Gebete und Gelübde, noch endlich die Kunst der Ärzte und alle Zaubermittel, zu denen man schließlich seine Zuflucht genommen hatte. Nach einigen Tagen starb das Kind. Der Hof und ganz Rom trauerte. Der Caesar, der bei der Geburt des Kindes vor Freude außer sich gewesen war, war jetzt vor Verzweiflung außer sich. Er verschloß sich in seine Gemächer und nahm zwei Tage lang keine Speise zu sich. Obgleich der Palast sich mit Scharen von Senatoren und persönlichen Freunden des Caesars füllte, die gekommen waren, um ihr Mitgefühl und ihr Beileid auszudrücken, wünschte er doch niemand zu sehen. Der Senat versammelte sich zu einer besonderen Sitzung, in der das verstorbene Kind für göttlich erklärt wurde; es wurde der Beschluß gefaßt, ihm einen Tempel zu errichten und einen besonderen Priester zu seinem Dienste zu bestellen. In den übrigen Tempeln wurden ihm zu Ehren Totenopfer dargebracht, Statuen aus kostbarem Metall wurden gegossen. Die[160] Bestattung vollzog sich unter außerordentlich Feierlichkeiten, und das Volk wunderte sich hierbei über den aufrichtigen Schmerz, den der Caesar zeigte; weinte mit ihm, streckte die Hände nach Gaben aus und belustigte sich zu alledem an dem niegesehenen Schauspiel.

Petronius war über diesen Tod erschrocken. Es war in ganz Rom bekannt, daß Poppaea ihn der Zauberei zuschrieb. Die Ärzte bestärkten sie in dieser Meinung, da sie auf diese Weise die Erfolglosigkeit ihrer Bemühungen erklären konnten, ebenso die Priester, deren Opfer sich als nutzlos erwiesen hatten, sowie die Zauberer, die für ihr Leben zitterten, und das Volk. Petronius war jetzt froh, daß Lygia geflogen war; denn er wünschte Aulus und Pomponia nichts Böses, sich selbst und Vinicius nur Gutes. Als daher die Zypresse, die zum Zeichen der Trauer vor dem Palatin aufgestellt war, hinweggenommen wurde, begab er sich zu dem für die Senatoren und Freunde des Caesars anberaumten Empfang, um zu erfahren, inwieweit Nero den Gerüchten über Zauberei Gehör geschenkt habe, und den Folgen vorzubeugen, die sich möglicherweise daraus ergeben konnten.

Er kannte Nero und wußte daher, daß dieser, auch wenn er nicht an Zauberei glaubte, sich stellen könnte, als glaube er daran, um seinen Schmerz zu betäuben oder um an irgend jemand Rache zu nehmen und um dem Verdachte vorzubeugen, als hätten die Götter begonnen, ihn seiner Freveltaten wegen zu strafen. Petronius traute es dem Caesar nicht zu, daß er seine eigene Tochter aufrichtig und tief lieben könne, wenn er auch eine flüchtige Neigung für sie empfinden mochte, und war überzeugt, daß sein Schmerz übertrieben sei. Er täuschte sich auch nicht. Nero hörte die Reden der Senatoren und Ritter mit unbeweglichen Zügen und starr auf einen Punkt gerichteten Augen an, und es war augenscheinlich, daß, selbst wenn er wirklich Schmerz empfand, er zugleich auch daran dachte, was sein Schmerz wohl für einen Eindruck auf die Anwesenden machen werde. Er gebärdete sich wie Niobe und[161] bot eine Darstellung des Vaterschmerzes, wie sie ein Schauspieler auf der Bühne geben würde. Er vermochte außerdem nicht einmal seinen sprachlosen und gleichsam versteinerten Kummer durchzuführen, denn bald machte er eine Bewegung, als wolle er sein Haupt mit Staub bestreuen, bald seufzte er tief auf. Als er aber Petronius erblickte, sprang er auf und rief mit tragischer Stimme, damit ihn alle Anwesenden verstehen könnten: »Ach! ... Du bist an ihrem Tode schuld! Auf deinen Rat betrat der böse Geist diese Mauern, der ihr mit einem einzigen Blicke das Leben aus der Brust saugte ... Wehe mir! Ich wünschte, meine Augen hätten nie das Licht des Helios erblickt ... Wehe mir! Weh, weh!«

Und seine Stimme noch verstärkend, stieß er ein verzweiflungsvolles Geschrei aus; aber Petronius entschloß sich in diesem Augenblicke alles auf einen Wurf zu setzen; er streckte seine Hand aus, ergriff rasch das seidene Tuch, das Nero stets um den Hals trug, und hielt es ihm vor den Mund.

»Herr!« rief er feierlich, »Rom und die Welt sind vor Schmerz verstummt; aber bewahre du doch deine Stimme für uns!«

Die Anwesenden waren starr vor Staunen, selbst Nero war es für einen Augenblick; nur Petronius behielt seine Fassung. Er wußte nur zu gut, was er tat. Außerdem erinnerte er sich, daß Terpnos und Diodoros den strengen Befehl hatten, dem Caesar den Mund zu schließen, wenn er seine Stimme zu sehr anstrengen und sie dadurch gefährden sollte.

»Caesar,« fuhr er mit derselben Feierlichkeit und demselben Kummer fort, »wir haben einen unermeßlichen Verlust erlitten; beraube uns nicht noch auch dieses Schatzes des Trostes!«

In Neros Gesicht zuckte es, und nach einiger Zeit traten ihm die Tränen in die Augen; er legte plötzlich seine Hände auf Petronius' Schultern, barg sein Haupt an dessen Brust[162] und begann unter Tränen zu wiederholen: »Du allein von allen dachtest daran, du allein! Petronius, du allein!«

Tigellinus wurde gelb vor Neid; Petronius aber sagte: »Gehe nach Antium! Dort kam sie zur Welt, dort ward dir die größte Freude zu teil, dort wirst du auch Trost finden. Laß die Seeluft deine göttliche Kehle stärken, laß deine Brust den Salzduft einatmen. Wir, deine Treuen, werden dir überallhin folgen, und wenn wir deinen Schmerz durch unsere Freundschaft lindern, so wirst du uns dafür mit deinem Gesange erfreuen.«

»Ja,« erwiderte Nero niedergeschlagen; »ich will eine Hymne ihr zu Ehren dichten und sie in Musik setzen.«

»Und dann wirst du die Sonnenwärme in Bajae genießen.«

»Und sodann Vergessenheit in Griechenland.«

»In der Heimat der Dichtung und des Gesanges.«

Und die starre, düstere Stimmung wich allmählich, wie die Wolken zerflattern, die die Sonne verdecken, und sofort begann ein Gespräch, das zwar noch voll von Trauer, aber auch voll von Zukunftsplänen war und die Reise, Kunstausstellungen und selbst die Festlichkeiten berührte, welche die bevorstehende Ankunft des Königs von Armenien, Tiridates, erforderlich machte. Tigellinus versuchte zwar noch einmal, auf die Zauberei zurückzukommen, aber Petronius, schon im voraus des Sieges gewiß, nahm die Herausforderung sofort an.

»Tigellinus,« sagte er, »glaubst du, daß die Zauberei den Göttern etwas anhaben kann?«

»Selbst der Caesar hat davon gesprochen,« antwortete der Höfling.

»Der Schmerz sprach, nicht der Caesar; aber was für eine Meinung hast du darüber?«

»Die Götter sind zu mächtig, um dem Zauber zu unterliegen.«

»Willst du etwa dem Caesar oder seiner Familie die Göttlichkeit abstreiten?«

[163] »Peractum est!« murmelte Eprius Marcellus, der in der Nähe stand und damit den Ausruf wiederholte, den das Volk tat, wenn ein Gladiator in der Arena einen solchen Stoß erhielt, daß er keines zweiten bedurfte.

Tigellinus verbarg seinen Ärger in sich. Zwischen ihm und Petronius bestand seit langem Eifersucht um Neros Gunst, und Tigellinus mußte die Erfahrung machen, als ob sich Nero in seiner Gegenwart weniger oder vielmehr gar keinen Zwang auferlegte und daß Petronius, so oft sie in ein Wortgefecht gerieten, ihn an Geist und Witz übertraf.

So geschah es auch jetzt. Tigellinus schwieg und prägte seinem Gedächtnis nur die Senatoren und Ritter ein, die, als Petronius sich tiefer in den Saal hineinbegab, ihn sofort umringten, da sie wußten, daß er nach diesem Vorfalle in der Gunst des Caesars wieder feststand.

Petronius verließ nach einiger Zeit den Palast und begab sich zu Vinicius, um ihm sein Zusammentreffen mit dem Caesar und Tigellinus zu berichten.

»Nicht nur von Aulus Plautius und Pomponia und von uns beiden,« sagte er, »habe ich die Gefahr abgewendet, sondern auch von Lygia, die man jetzt nicht suchen wird, sei es auch nur deswegen, weil ich jenen rotbärtigen Affen überredet habe, nach Antium und von dort nach Neapel oder Bajae zu gehen. Und er wird es tun. In Rom hat er es noch nicht gewagt, öffentlich im Theater aufzutreten; ich weiß aber, daß er seit langem die Absicht hegt, in Neapel aufzutreten. Zudem träumt er von Griechenland, wo er in allen bekannteren Städten singen und dann, mit allen Kränzen geschmückt, die ihm die Graeculi darbringen werden, im Triumph nach Rom zurückkehren will. In dieser Zeit werden wir Lygia suchen und in Sicherheit bringen können. Aber wie? Ist nicht unser edler Philosoph hier gewesen?«

»Dein edler Philosoph ist ein Betrüger. Nein, er ist nicht hier gewesen, hat sich nicht gezeigt und wird sich auch nicht wieder zeigen.«[164]

»Ich habe eine bessere Meinung, wenn auch nicht von seiner Ehrlichkeit, so doch von seinem Verstande. Er hat schon einmal deiner Börse Lebensblut entzogen und wird daher wiederkommen, sei es auch nur, um es ihr zum zweitenmal zu entziehen.«

»Er soll sich hüten, daß ich ihm nicht sein eigenes Blut entziehe.«

»Tu das nicht. Gedulde dich, bis du klare Beweise für seinen Betrug hast. Gib ihm kein Geld mehr, sondern versprich ihm statt dessen eine hohe Belohnung, sobald er zuverlässige Nachrichten bringt. Willst du auch auf eigene Hand etwas unternehmen?«

»Meine zwei Freigelassenen, Nymphidius und Demas, suchen sie an der Spitze von sechzig Mann. Dem Sklaven, der sie findet, habe ich die Freiheit versprochen. Außerdem habe ich Leute auf alle Straßen gesandt, die von Rom wegführen, damit sie sich bei den Herbergswirten nach dem Lygier und dem Mädchen erkundigen. Ich selber will Tag und Nacht in der Hoffnung auf einen glücklichen Zufall die Stadt durchstreifen.«

»Wenn du Nachricht hast, so laß es mich wissen, denn ich muß nach Antium.«

»Gut.«

»Und wenn du dir eines Morgens beim Erwachen sagst, daß es sich um eines Mädchens willen nicht verlohnt, sich so abzuquälen und seinetwegen so viel Umstände zu machen, so komme zu mir nach Antium. Dort fehlt es nicht an Weibern und an Vergnügungen.«

Vinicius begann mit raschen Schritten auf und ab zu gehen; Petronius betrachtete ihn einige Zeit und sagte endlich: »Sage mir im Ernst – nicht wie ein Hitzkopf, der sich etwas einredet und darüber in Aufregung gerät, sondern wie ein vernünftiger Mensch, der einem Freunde antwortet: Liebst du diese Lygia immer noch in derselben Weise?«[165]

Vinicius blieb stehen und sah Petronius mit einem Ausdrucke an, als habe er ihn nie zuvor erblickt, dann begann er von neuem ruhelos umherzuwandern. Es war augenscheinlich, daß er einen Zornesausbruch unterdrückte. Endlich traten ihm infolge der Erkenntnis seiner Hilflosigkeit, seines Schmerzes, seines Ärgers und seiner unstillbaren Sehnsucht zwei Tränen in die Augen, welche eindringlicher zu Petronius sprachen als die beredtesten Worte.

Nach einigem Nachdenken sagte er daher: »Nicht Atlas trägt die Welt auf seinen Schultern, sondern das Weib, und manchmal spielt es damit wie mit einem Balle.«

»So ist es!« entgegnete Vinicius.

Petronius wollte sich verabschieden. Aber in demselben Augenblicke meldete ein Sklave, daß Chilon Chilonides in der Vorhalle warte und bitte, bei dem edlen Herrn vorgelassen zu werden.

Vinicius befahl, ihn sofort hereinzuführen; Petronius aber rief: »Ha, habe ich es dir nicht gesagt? Beim Herakles! Bewahre nur deine Ruhe; sonst wird er dir befehlen, nicht du ihm.«

»Gruß und Hochachtung dem edlen Kriegstribunen und dir, Herr!« Mit diesen Worten betrat Chilon das Atrium. »Möge dein Glück so groß sein wie dein Ruhm, und möge dein Ruhm die ganze Welt durchfliegen von den Säulen des Herakles an bis zu den Grenzen der Arsaciden.«

»Sei gegrüßt, du Gesetzgeber der Tugend und Weisheit,« entgegnete Petronius.

Vinicius aber fragte mit erzwungener Ruhe: »Was bringst du?«

»Das erste Mal brachte ich dir die Hoffnung, jetzt aber bringe ich dir die Gewißheit, daß das Mädchen aufgefunden werden wird.«

»Das heißt, du hast es noch nicht gefunden?«

»So ist es, Herr; aber ich habe erfahren, was jenes Zeichen bedeutet, das sie vor deinen Augen zeichnete; ich weiß,[166] wer die Leute sind, die sie entführten, und ich weiß, unter welches Gottes Anhängern sie zu suchen ist.«

Vinicius wollte von dem Stuhle, auf dem er saß, aufspringen; aber Petronius legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte, sich an Chilon wendend: »Sprich weiter.«

»Bist du vollkommen sicher, Herr, daß das Mädchen einen Fisch in den Sand zeichnete?«

»Jawohl!« fuhr ihn Vinicius an.

»Dann ist sie eine Christin, und Christen haben sie entführt.«

Alle schwiegen einen Augenblick.

»Höre, Chilon,« sagte endlich Petronius. »Mein Neffe hat dir eine beträchtliche Summe Geldes für die Auffindung des Mädchens zugesagt, aber eine ebenso große Zahl Peitschenhiebe, wenn du ihn zu betrügen versuchst. Im ersteren Falle kannst du dir nicht nur einen, sondern drei Schreiber kaufen, im zweiten wird dir die Philosophie aller sieben Weisen mit Einschluß deiner eigenen nicht die Schmerzen lindern.«

»Das Mädchen ist eine Christin, Herr!« rief der Grieche.

»Merke auf, Chilon! Du bist kein Dummkopf! Wir wissen, daß Junia Silana zusammen mit Calvia Crispinella Pomponia Graecina beschuldigten, Anhängerin des christlichen Aberglaubens zu sein; aber wir wissen auch, daß ein häuslicher Gerichtshof sie von dieser Anklage freisprach. Möchtest du dies aufs neue behaupten? Möchtest du uns einreden wollen, daß Pomponia und mit ihr zugleich auch Lygia zu den Feinden des menschlichen Geschlechts gehören können, zu den Quellen- und Brunnenvergiftern, zu den Verehrern eines Eselskopfes, zu den Leuten, die kleine Kinder schlachten und die schmutzigsten Ausschweifungen begehen? Bedenke, Chilon, ob die Thesis, die du uns aufstellst, nicht etwa als Antithesis auf deinen Rücken zurückfällt.«

Chilon streckte seine Hände aus zum Zeichen, daß er unschuldig sei, und sagte dann: »Herr! sprich auf griechisch[167] die folgenden Worte aus: Jesus Christus, Sohn Gottes, Erlöser.«1

»Gut; ich habe sie gesprochen! Was folgt daraus?«

»Nimm nun die Anfangsbuchstaben jedes einzelnen dieser Worte und sprich sie so aus, daß sie ein einziges Wort bilden.«

»Ichthys!« sagte Petronius erstaunt.

»Sieh, daher ist ein Fisch das Symbol der Christen geworden,« sprach Chilon mit Selbstbewußtsein.

Wiederum schwiegen sie. In den Schlußfolgerungen des Griechen lag etwas so Schlagendes, daß sich beide Freunde des Staunens nicht erwehren konnten.

»Vinicius,« fragte Petronius, »irrst du dich auch nicht und hat Lygia wirklich einen Fisch gezeichnet?«

»Bei allen Göttern der Unterwelt, es ist zum Verrücktwerden!« rief der junge Mann erregt. »Wenn sie mir einen Vogel gezeichnet hätte, würde ich gesagt haben: einen Vogel.«

»Sie ist also eine Christin!« wiederholte Chilon.

»Das heißt,« sagte Petronius, »Pomponia und Lygia vergiften Quellen, schlachten auf der Straße aufgefangene Kinder und ergeben sich Ausschweifungen! Unsinn! Vinicius, du weiltest längere Zeit in ihrem Hause, ich war nur kurze Zeit bei ihnen, aber ich kenne Aulus und Pomponia, ja selbst Lygia zur Genüge, um sagen zu können: Unsinn und Dummheit! Wenn der Fisch das Symbol der Christen ist, was sich in der Tat schwer leugnen läßt, und wenn die beiden Frauen Christinnen sind, dann, bei Proserpina! sind die Christen offenbar nicht das, wofür wir sie halten.«

»Du sprichst wie Sokrates, Herr,« entgegnete Chilon. »Wer hat je einen Christen verhört? Wer hat ihren Glauben untersucht? Als ich vor drei Jahren von Neapel hierher, nach Rom, reiste (o, warum bin ich nicht dort geblieben),[168] gesellte sich ein Mann zu mir, ein Arzt, namens Glaukos, von dem es hieß, er sei Christ; trotzdem aber gewann ich die Überzeugung, daß er gut und tugendhaft war.«

»Hast du von diesem tugendhaften Manne nicht erfahren, was der Fisch bedeutet?«

»Leider nicht, Herr! Unterwegs stieß jemand in einer Herberge den ehrwürdigen Greis mit einem Messer nieder, während Frau und Kind von Sklavenhändlern weggeschleppt wurden. Ich jedoch verlor bei der Verteidigung die beiden Finger hier. Aber da es bei den Christen, wie die Leute sagen, nicht an Wundern fehlt, so hege auch ich die Hoffnung, daß sie mir wieder wachsen.«

»Wie? Bist du Christ geworden?«

»Seit gestern, Herr, seit gestern! Dieser Fisch machte mich zum Christen. Man sollte nicht glauben, was für eine Macht darin verborgen ist. In einigen Tagen werde ich der eifrigste der Eifrigen sein, damit sie mich in alle ihre Geheimnisse einweihen, und habe ich das erreicht, so werde ich auch in Erfahrung bringen, wo sich das Mädchen versteckt hält. Vielleicht lohnt sich dann mein Christentum besser als meine Philosophie. Ich habe auch dem Merkur ein Gelübde getan, daß, wenn er mir das Mädchen suchen hilft, ich ihm zwei Kühe von demselben Alter und derselben Rasse, denen ich die Hörner werde vergolden lassen, opfern werde.«

»Also erlaubt dir dein Christentum von gestern und deine Philosophie, in deren Besitze du dich schon längere Zeit befindest, an Merkur zu glauben?«

»Ich glaube immer an das, was mir zu glauben nötig ist; dies ist meine Philosophie, mit der sich allerdings auch Merkur befreunden muß. Unglücklicherweise ist er, wie ihr wißt, werte Herren, ein mißtrauischer Gott. Er traut nicht einmal den Versprechungen tadelloser Philosophen und möchte die Kühe vielleicht im voraus haben. Aber es ist eine sehr hohe Ausgabe. Nicht jeder ist ein Seneca, und ich habe nicht das Geld dazu. Wenn jedoch der edle Vinicius mir auf[169] Rechnung der Summe, die er mir versprochen hat, etwas geben wollte ...«

»Keinen Obolus, Chilon!« sagte Petronius, »keinen Obolus! Vinicius' Freigebigkeit wird deine Erwartungen übertreffen, aber erst dann, wenn Lygia gefunden ist, das heißt, wenn du uns ihr Versteck nennen kannst. Merkur muß dir die beiden Kühe kreditieren, obgleich ich mich weiter nicht wundere, daß dies nicht nach seinem Sinne ist, und ich erkenne darin seinen Scharfblick.«

»Hört mich, werte Herren! Es ist eine wertvolle Entdeckung, die ich gemacht habe, denn obgleich ich das Mädchen selbst noch nicht gefunden habe, so habe ich doch den Weg gefunden, auf dem es gesucht werden kann. Ihr habt Freigelassene und Sklaven in der ganzen Stadt und der ganzen Provinz herumgeschickt; hat einer von ihnen euch irgendwelche Andeutung gemacht? Nein! Ich allein habe eine gemacht. Und ich sage euch noch mehr. Unter euren Sklaven können Christen sein, ohne daß ihr es wißt, denn dieser Aberglaube ist schon überall verbreitet, und anstatt euch zu nützen, könnten sie euch schaden. Es ist daher nicht gut, daß sie mich hier sehen, und darum, edler Petronius, gebiete Eunike Schweigen, und du, gleich edler Vinicius, erkläre, ich verkaufte dir eine Salbe, die den damit bestrichenen Pferden im Zirkus den Sieg sichere ... Ich allein werde nach dem Mädchen suchen und ich allein werde die Flüchtlinge finden. Vertraut mir und wisset, daß das, was ihr mir auch immer im voraus zahlt, für mich nur eine Aufmunterung ist; denn ich hoffe stets auf noch mehr und werde um so größere Gewißheit haben, daß die ausgesetzte Belohnung mir nicht entgeht. Ach ja! Als Philosoph verachte ich das Geld, obgleich weder Seneca noch selbst Musonius oder Cornutus dies tun, die doch keinen Finger bei der Verteidigung eines anderen verloren haben und selber schreiben können, um ihren Namen der Nachwelt zu überliefern. Aber abgesehen von dem Sklaven, den ich mir kaufen will, und von dem Merkur, dem ich die Kühe gelobt[170] habe (und ihr wißt, wie teuer das Vieh jetzt ist), macht die Nachforschung selbst viele Auslagen notwendig. Hört mich nur geduldig an! In den letzten Tagen habe ich mir bei dem beständigen Gehen die Füße wund gelaufen. Ich habe Weinschenken besucht, um mit den Leuten zu sprechen, bin zu Bäckern, Fleischern, Öl- und Fischhändlern gegangen. Ich habe alle Straßen und Gassen durchstreift, bin in den Verstecken entlaufener Sklaven gewesen, habe hundert Asse beim Moraspiel verloren. Ich bin in Waschhäusern, Trockenhütten und Garküchen gewesen, habe Eselstreiber und Bildhauer aufgesucht, ebenso Leute, die Blasenleiden kurieren und Zähne ziehen, ich habe mit Verkäufern getrockneter Feigen geplaudert, bin auf den Begräbnisplätzen gewesen, und wißt ihr, zu welchem Zwecke? Um überall einen Fisch zu zeichnen, dabei den Leuten ins Gesicht zu sehen und zu hören, was sie zu diesem Zeichen sagen würden. Lange Zeit konnte ich nichts in Erfahrung bringen, bis ich endlich einmal einen alten Sklaven an einem Brunnen sah, der mit Eimern Wasser schöpfte und dabei weinte. Ich näherte mich ihm nun und fragte ihn nach der Veranlassung seiner Tränen. Nachdem wir uns auf die Stufen des Brunnens gesetzt hatten, erzählte er mir, er habe sein ganzes Lebenlang Sesterze um Sesterze erspart, um seinen lieben Sohn loszukaufen, aber sein Herr, ein gewisser Pansa, habe das Geld wohl genommen, als er es ihm anbot, seinen Sohn aber als Sklaven weiterbehalten. Und darum weine ich, sagte der alte Mann, denn obgleich ich mir immer sage: Der Wille Gottes geschehe! so kann ich armer Sünder doch meine Tränen nicht zurückhalten. Wie von einer Ahnung ergriffen, feuchtete ich meinen Finger mit Wasser an und zeichnete ihm einen Fisch, worauf er sagte: Auch meine Hoffnung ruht in Christus. Ich fragte nun: Hast du mich an diesem Zeichen erkannt? Er antwortete: Ja, und Friede sei mit dir! Ich begann darauf, ihn auszufragen, und der ehrliche alte Mann erzählte mir alles. Sein Herr, jener Pansa, ist selber ein Freigelassener[171] des großen Pansa und bringt Steine auf dem Tiber nach Rom, wo Sklaven und gedungene Leute sie aus den Schiffen ausladen und zur Nachtzeit zu den Bauten bringen, um bei Tage den Straßenverkehr nicht zu behindern. Unter diesen Arbeitern befinden sich viele Christen, und auch sein Sohn ist darunter; da aber die Arbeit über seine Kräfte geht, möchte er ihn deswegen loskaufen. Doch Pansa behält lieber das Geld und den Sklaven. Während mir der Alte dies erzählte, begann er von neuem zu weinen, und ich vermischte meine Tränen mit den seinen; denn die kamen mir leicht wegen meines guten Herzens und der Schmerzen an meinen Füßen, die ich mir durch das übermäßige Gehen zugezogen hatte. Ich fing auch an, ihm zu klagen, daß, da ich erst vor wenigen Tagen aus Neapel hierher gekommen sei, ich keinen von den Brüdern kenne und auch nicht wisse, wo sie sich zum gemeinsamen Gebete versammelten. Er wunderte sich, daß mir die Christen in Neapel nicht Briefe an die Brüder in Rom mitgegeben hätten, ich erzählte ihm aber, daß sie mir unterwegs gestohlen worden seien. Dann sagte er mir, ich möchte in der Nacht an den Fluß kommen, er wolle mich mit den Brüdern bekannt machen, die mich dann zu ihren Bethäusern und zu den Ältesten führen würden, welche die christliche Gemeinde leiten. Als ich dies hörte, war ich so erfreut, daß ich ihm die zum Loskauf seines Sohnes nötige Summe gab in der Hoffnung, der freigebige Vinicius würde mir sie doppelt ersetzen ...«

»Chilon,« unterbrach ihn Petronius, »in deiner Erzählung schwimmt die Lüge auf der Oberfläche der Wahrheit wie das Öl auf dem Wasser. Du hast uns wichtige Mitteilungen gemacht, das ist nicht zu leugnen. Ich glaube sogar, daß wir auf dem Wege zu Lygias Auffindung einen großen Schritt vorwärts getan haben; aber umhülle deine Nachrichten nicht mit Lügen. Wie heißt jener alte Mann, von dem du erfahren hast, daß die Christen sich gegenseitig an dem Zeichen des Fisches erkennen?«[172]

»Euricius, Herr. Es ist ein armer, unglücklicher alter Mann. Er erinnerte mich an den Arzt Glaukos, den ich gegen die Mörder verteidigte, und daher rührte er mir das Herz.«

»Ich glaube dir, daß du ihn kennen gelernt hast und daß du imstande sein wirst, diese Bekanntschaft auszunützen; aber du hast ihm kein Geld gegeben. Du hast ihm kein As gegeben, verstehst du? Du hast ihm nichts gegeben.«

»Aber ich half ihm seinen Eimer heraufwinden und sprach mit dem größten Mitgefühl von seinem Sohne. Ja, Herr! was läßt sich vor Petronius' Scharfsinn verbergen? Nun denn, ich gab ihm kein Geld, oder vielmehr, ich gab es ihm, aber nur im Geiste, im Gedanken, und das hätte ihm genügen müssen, wenn er ein wahrer Philosoph gewesen wäre ... Ich gab es ihm deswegen, weil ich eine solche Handlung für unerläßlich und nützlich hielt, denn bedenke, Herr, wie ich mir damit sofort die Herzen aller Christen gewonnen, mir den Zutritt zu ihnen verschafft und welches Vertrauen ich mir dadurch bei ihnen erworben habe.«

»Das ist wahr,« sagte Petronius, »und du mußtest so handeln.«

»Gerade deshalb bin ich hergekommen, um die Tat ausführen zu können.«

Petronius wandte sich an Vinicius: »Laß ihm fünftausend Sesterzen auszahlen, aber nur im Geiste, im Gedanken ...«

Aber Vinicius sagte: »Ich gebe dir einen jungen Mann mit, der die nötige Summe bei sich führt. Du sagst dem Euricius, dieser junge Mensch sei dein Sklave, und zahlst dem Alten vor dessen Augen das Geld aus. Da du jedoch eine wichtige Mitteilung gemacht hast, erhältst du das Doppelte für dich. Komme heut abend her, um den jungen Mann und das Geld abzuholen.«

»Du bist ein wahrer Caesar!« rief Chilon. »Gestatte mir, Herr, dir mein Werk zu widmen; gestatte aber auch,[173] daß ich heut abend nur des Geldes wegen komme, denn Euricius sagte mir, daß alle Kähne schon ausgeladen seien und neue erst in einigen Tagen von Ostia anlangen. Friede sei mit euch! So verabschieden sich die Christen voneinander. Ich will mir eine Sklavin kaufen, das heißt, ich wollte sagen: einen Sklaven. Die Fische werden mittels des Köders gefangen und die Christen mittels des Fisches. Pax vobiscum! pax! ... pax! ... pax! ...«

1

Die Worte lauten griechisch: Ἰησοῦς Χριστός, Θεοῦ Ὑιός, Σωτήρ. Das aus den Anfangsbuchstaben dieser Worte gebildete Wort lautet: ἰχϑύς (Fisch).

Quelle:
Sienkiewicz, Henryk: Quo vadis? Zwei Bände, Leipzig [o.J.], Band 1, S. 160-174.
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