Siebzigstes Kapitel.

[303] Beim Grauen des folgenden Tages bewegten sich zwei dunkle Gestalten auf der Appischen Straße den Ebenen der Campania zu.

Die eine von ihnen war Nazarius, die andere der Apostel Petrus, der Rom und seine gemarterten Glaubensbrüder zu verlassen im Begriffe stand.

Der Himmel hatte sich im Osten mit einem leichten grünen Saume umzogen, der sich in seinem unteren Teile langsam, aber immer deutlicher safranrot färbte. Silberblättrige Bäume, weiße Marmorvillen und die Bogen der sich über die Ebene nach der Stadt hinziehenden Wasserleitung tauchten allmählich aus dem Dunkel auf. Nach und nach wurde das Grün des Himmels immer intensiver und ging in Gold über. In der Ferne begannen die Albanerberge in rosigem Lichte zu erglühen und erstrahlten in wunderbarem Lilienschimmer, als wären sie aus lauter Glanz gewoben.

Das Sonnenlicht spiegelte sich in den zitternden Tautropfen am Laube der Bäume wider. Der Nebel wich, und immer klarer wurde die Aussicht auf die Ebene, die Häuser, Begräbnisplätze, Städtchen und Baumgruppen, aus deren Mitte weiße Tempelsäulen schimmerten.

Die Straße war menschenleer. Die Bauern, die Gemüse nach Rom brachten, hatten augenscheinlich ihre Wagen noch nicht angespannt. Von den Steinplatten, mit denen der Weg bis zu den Bergen gepflastert war, hallte in der Morgenstille das Geräusch der Holzschuhe wider, die die beiden Wanderer an den Füßen trugen.

Dann stieg die Sonne hinter der Hügelreihe empor, aber zugleich fesselte eine wunderbare Erscheinung die Augen des Apostels. Es war ihm, als steige das goldene Rund, statt sich am Himmel höher und höher zu erheben, hernieder und wandle ihnen entgegen.

Petrus blieb stehen und fragte: »Siehst du jenen Glanz, der sich uns nähert?«[304]

»Ich sehe nichts,« erwiderte Nazarius.

Doch Petrus beschattete seine Augen mit der Hand und sagte: »Eine Gestalt kommt im Glanze der Sonne auf uns zu.«

Aber nicht das leiseste Geräusch von Schritten drang an ihr Ohr. Ringsum war es totenstill; Nazarius sah nur die Bäume in der Ferne erzittern, als ob sie von jemand geschüttelt würden, und ein Rosenglanz verbreitete sich immer weiter über die Ebene.

Erstaunt sah er den Apostel an.

»Rabbi, was ist dir?« rief er bestürzt.

Der Wanderstab sank Petrus aus den Händen, unbeweglich blickten die Augen nach vorwärts, die Lippen waren geöffnet, in seinen Zügen spiegelten sich Staunen, Freude, Entzücken. Mit einem Male stürzte er mit ausgebreiteten Armen auf die Kniee, und von seinen Lippen drang der Ruf: »Christus! ... Christus! ...«

Er fiel mit dem Antlitz zur Erde, als küsse er jemandes Füße.

Lange schwieg er, dann erklangen durch die Stille die tränenerstickten Worte des Greifes: »Quo vadis, Domine? ...«1

Nazarius vernahm keine Antwort, aber zu Petrus' Ohren drang eine traurige, sanfte Stimme: »Da du mein Volk verlässest, so gehe ich nach Rom, wo man mich aufs neue kreuzigen wird.«

Der Apostel lag, das Antlitz im Staube, regungs- und sprachlos da. Nazarius glaubte schon, er sei ohnmächtig oder tot. Endlich aber erhob er sich, ergriff mit zitternden Händen den Pilgerstab und wandte sich, ohne ein Wort zu sprechen, wieder der Siebenhügelstadt zu.

Der Knabe aber wiederholte wie ein Echo: »Quo vadis, Domine? ...«

»Nach Rom,« antwortete der Apostel leise.

Und er kehrte zurück.


*
[305]

Voller Erstaunen empfingen ihn Paulus, Johannes, Linus und alle übrigen Gläubigen, und zwar mit um so größerem Schrecken, als bei Tagesgrauen, unmittelbar nach seinem Fortgange, Prätorianer das Haus Mirjams umstellt und nach dem Apostel durchsucht hatten. Aber auf alle Fragen antwortete er nur heiter und gelassen: »Ich habe den Herrn gesehen.«

Noch am Abend desselben Tages begab er sich nach dem Ostrianum, um zu predigen und alle zu taufen, die sich im Wasser des Lebens läutern wollten.

Von nun an ging er täglich dorthin, und immer größer wurde die Zahl derer, die sich um ihn scharten. Es war, als erständen aus jeder Träne eines Märtyrers neue Gläubige und als fände jeder in der Arena ausgestoßene Seufzer seinen Widerhall in tausenden von Herzen. Der Caesar schwamm in Blut, Rom und die gesamte heidnische Welt raste in wahnwitzigem Taumel dahin. Die aber, die der Greueltaten und des Wahnwitzes müde wurden, die man mit Füßen trat, deren Dasein Elend und Unterdrückung war, alle Mühseligen, alle Beladenen, alle Unglücklichen kamen, um die wunderbare Kunde von einem Gotte zu vernehmen, der sich aus Liebe für die Menschheit hatte ans Kreuz schlagen lassen, um sie von ihren Sünden zu erlösen.

Und indem sie einen Gott fanden, den sie lieben konnten, fanden sie das, was die damalige Welt niemandem geben konnte: Glück und Liebe.

Petrus aber erkannte, daß weder der Caesar noch all seine Legionen die lebendige Wahrheit zu überwältigen vermöchten, daß weder Blut noch Tränen sie auslöschten und daß sie jetzt erst ihren Siegeszug antrete. Ebenso verstand er, warum ihn der Herr unterwegs zurückgesandt habe: diese Stadt des Hochmuts, des Lasters, der Ausschweifung und der Macht begann in doppelter Hinsicht seine Stadt und seine Residenz zu werden, da von ihr die Weltherrschaft über Seele und Leib ausgehen sollte.

1

Herr, wohin gehst du?

Quelle:
Sienkiewicz, Henryk: Quo vadis? Zwei Bände, Leipzig [o.J.], Band 2, S. 303-306.
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