17. Szene.

[52] Ein Geist im Priestergewand. Doktor Faust.


DOKTOR FAUST. Welche Erscheinung! Ehrwürdiger Greis, wer bist du?

GEIST. Ein Priester der Wahrheit.

DOKTOR FAUST. Willkommen, deine Gottheit ist die meinige. Woher kommst du?

GEIST. Aus ihrem Tempel.

DOKTOR FAUST. Längst such' ich ihn; laß uns eilen – wo ist er?

GEIST. Im Gebiete der Tugend.

DOKTOR FAUST. Vater, mich täuschen nicht Orakel. Was ist sie?

GEIST. Stilles Horchen auf die innre Stimme.

DOKTOR FAUST. Und wenn Narren um dich summen?

GEIST. So ziehst du dich in dich selbst zurück.

DOKTOR FAUST. Wenn der Leidenschaften Orkan heult?

GEIST. Du stehst fest auf deiner Base.

DOKTOR FAUST. Vater, du bist mein Mann. Auch ich dürste nach Wahrheit, auch ich ringe nach Tugend. Was suchst du bei mir?

GEIST. Nichts. Ich bringe dir.

DOKTOR FAUST. Du bringst?

GEIST. Einen Spiegel und diesen Zypressenkranz.

DOKTOR FAUST. Ich fasse dich nicht.

GEIST. Du strebst die Menschheit zu beglücken, und ermordest sie.

DOKTOR FAUST. Ich? Und jetzt?[52]

GEIST. Jetzt! Gleich einem feindlichen Genius setzest du die Erde in Brand und dein vergiftender Hauch verbreitet rings Tod und Verderben.

DOKTOR FAUST. Rasest du?

GEIST. Sieh in diesen geheimnisvollen Spiegel: Es ist der Spiegel der Wahrheit. Sieh und schaudre! Diesem Mädchen gabst du ihren Liebhaber. Er ist ein Landstreicher. Bei der Nachricht ihrer Flucht erhängt sich ihr unglücklicher Vater. Die Dünste schwärmerischer Leidenschaft verfliegen und die betrogne, verratne, verlassne Tochter folgt ihrem Vater.

DOKTOR FAUST. Entsetzlich!

GEIST. Dieser Bettler verschwendete leichtsinnig seine Habe. Not gab ihm Kraft zur Arbeit. Du gabst ihm Gold – um es von neuem zu verschwenden. Müßiggang und Wollust geleiten ihn zum Hochgericht. Sein Weib, seine Kinder jammern ihm nach.

DOKTOR FAUST. Ich Unglücklicher!

GEIST. Diesem Greise gabst du seinen Sohn; aber auch Tugend und Sanftheit? Wütend über die Vorwürfe eines erzürnten Vaters, gibt er ihm Gift.

DOKTOR FAUST. Ungeheuer!

GEIST. Dieser Künstler ward der Stolz seines Vaterlands. Armut, der Sporn seines Fleißes, beflügelte seinen Ehrgeiz. Du gabst ihm Gold und die Kunst trauert.

DOKTOR FAUST. O Menschheit!

GEIST. Dieser entehrten Gattin gabst du ihren Gemahl wieder; aber sieh, wie der Geier des Argwohns an seinem Herzen frißt! Die Unschuld selbst fängt sich in dem Spinngewebe des Mißtrauens. Auf grundlosen Verdacht ermordet er sie und dann sich.

DOKTOR FAUST. O weh, weh mir!

GEIST. Sieh die Folgen deiner Wohltaten! Sieh die Hoffnungen, die sie in den Herzen wankender Tugenden wecken, sieh das Hohngelächter der Verführten, die Tränen entehrter Weiber, die Verzweiflung gemißhandelter Gatten, die Hölle[53] gestörter häuslicher Glückseligkeit, das Geschrei verwaister Familien! Es klagt dort am Richterstuhle gegen dich.

DOKTOR FAUST. O weh, weh mir!

GEIST. Willst du mehr? Blicke in den Abgrund von Neid, Wollust, Müßiggang und Jammer, den dein Gold unter diesem armen, verblendeten Haufen schaffen wird.

DOKTOR FAUST. Halt ein! Meine Seele hat keinen Platz für neue Wunden, mein Auge keine Träne mehr.

GEIST. Dies alles ist dein Werk!

DOKTOR FAUST. Hölle, verberge mich!

GEIST. Unglücklicher! Es ist leicht glücklich zu sein. Es ist schwer, glücklich zu machen.

DOKTOR FAUST. Vater, du blickst in mein Innerstes. Lehre mich diese Kunst.

GEIST. Nicht auf der geräuschvollen Straße der Schwärmerei findest du sie, nicht mit der Wünschelrute des Goldes. Sie ist auf dem stillen, einsamen Pfade der Weisheit.

DOKTOR FAUST. Sprich, wo finde ich sie?

GEIST. Willst du sie finden, so suche sie nicht! Faust! Die Tugend säet aus im Lenze, gewiß, daß der Herbstwind über ihre Urne weht. Der Glanz einer erforschten Wahrheit, die nach Jahrtausenden wuchert, verklärt ihren letzten sterbenden Blick.

DOKTOR FAUST. Edler, du bist ein höheres Wesen.

GEIST. Die Tugend hebt jedes.

DOKTOR FAUST. Sprich, wer bist du, daß ich niederfalle und anbete.

GEIST. Faust, ich beobachtete dich längst. Lange irrtest du umher auf der Bahn des Lasters; selbst Satan war dein Gefährte. Ich trauerte und zitterte nicht. Denn du hast Kraft und Gefühl, und für diese ist Ausgang aus jedem Labyrinth der Leidenschaft. Aber da du dich wähntest auf der Bahn der Tugend, da ich dich anzünden sah die Flamme edler Gefühle an der Fackel der Furien, da zitterte ich und eilte, dir zum letztenmal die Hand zu bieten.[54]

DOKTOR FAUST. Ha, nun erkenne ich dich.

GEIST. Wohl dir!

DOKTOR FAUST. Du bist es, Ithuriel, mein Wohltäter, mein Freund.

ITHURIEL in seiner wahren Gestalt. Ich bin es. Nur am Grabe verlaß ich dich! Sinkt in seine Arme.

Quelle:
Soden, Julius von: Doktor Faust. Neustadt a.d. Aisch 1931, S. 52-55.
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