Fantasieen

[16] Ich saß im milden Schein der Abendröthe

An meiner Lieblingsquelle Rand,

Und lauschte auf der nahen Hirten Flöte,

Gelehnt an schroffe Felsenwand.


Des Mondes Silberstralen bebten

Durch dünner Zweige zartes Grün,

Des Abends Nebelwolken schwebten,

Gleich Sylfen, über Blumen hin.


Hier zirpte einsam noch die kleine Grille

Am See, gehüllt in Schilf und Moor,

Dort unterbrach die feierliche Stille

Ein singend Nachtigallen-Chor.


Von leichtem Mondenschimmer ganz umflossen,

Umhaucht von jungem Maiengrün,

Mit Apfelblüthen übergossen,

Sank ich auf weichen Rasen hin.
[17]

Sanft eingewiegt vom flötenden Gesange

Der holden Zaub'rin Nachtigall,

Vom Tönen ferner Heerden Schellenklange,

Vom nahen lauten Wasserfall;


Umflatterten mich rosenfarbne Träume

Mit sanfter, magischer Gewalt,

Sie malten mir dies Thal voll Blüthenbäume

Zu holder Feen Aufenthalt.


Sie gaben mir ein Schloß von Marmorsäulen

Mit Seid'- und Gold-durchwirkter Wand,

Zum Eigenthum ein Land von tausend Meilen,

An meine Brust ein stolzes Band.


»Dies gab ich dir, – rief mit ergrimmtem Blicke,

Fortuna, – und dein Auge weint?«

»Ha! rief ich, Täuscherin! zum höchsten Glücke

Fehlt mir ein edler, treuer Freund!«

Quelle:
Elise Sommer: Poetische Versuche, Marburg 1806, S. 16-18.
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