Morgengefühle

[35] Bebet leis', ihr Harfentöne,

Rührend, wie die Andacht fleht,

In des jungen Morgens Schöne

Werde mein Gesang Gebet!


Möchten in der Andacht Feier

Mich Entzückungen durchwehn,

Mein verklärtes Auge freier

Dieses Morgens Schönheit sehn!


In des Waldes Tempelhallen

Singt ein Nachtigallen-Chor,

Von der Erde Altar wallen

Opferdüfte hoch empor!


Von der Sonne Gold umflossen

Glüht der ernste Eichenhain,

Von dem Blüthenschnee umgossen

Prangt der frische Blumen-Rain.


Süsse Ruhe, stiller Friede

Grüsst die lebenvolle Flur,

Weht im hehren Morgenliede

Durch die Kreise der Natur!
[36]

In dem Schauer ihrer Feier

Schwindet jeder Erden-Schmerz,

Grösser, glücklicher und freier

Fühlt sich das bewegte Herz!


O, wo giebt es ein Entzücken

Das aus rein'rer Quelle quillt,

Das so sehr, wie dies Entzücken,

Meines Herzens Sehnsucht stillt?

Quelle:
Elise Sommer: Gedichte, Frankfurt a.M. 1813, S. 35-37.
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