11. Die beiden Raben.

[141] Mündlich aus Gutenberg.


»Ach Mutter, wie hungert uns!« riefen die beiden Söhne einer armen Wittwe, die einen Aschkuchen buk und sie immer vertröstete daß er bald fertig sei. Sie aber riefen immer wieder »Ach Mutter, wie hungert uns!« Da konnte sich die Frau nicht länger halten und sprach im Zorn »So wollt ich doch daß ihr gleich zu Raben würdet!« Und kaum hatte sie das gesagt so flogen die Söhne schon als Raben zum Fenster hinaus.

Nun saß sie oft traurig und weinte, daß sie ihre Söhne verwünscht hatte. Sie hatte nur noch ein einziges Töchterlein; doch das war ein gutes, frommes Kind, und als es heranwuchs und die Mutter immer betrübt sah, fragte es was ihr fehle. Da erzählte ihr die Mutter »Du hast zwei Brüder gehabt, und die hab ich in Raben verwünscht, als du noch in der Wiege lagst, und darum werde ich bis an meinen Tod nicht wieder froh.« Doch das Mädchen sprach »Ich will ausziehen und meine Brüder suchen, und wenn ich sie wiederbringe, sollst du eine rechte Freude haben.« Da zog das Mädchen aus und wanderte einen ganzen Tag, und am Abend kam sie in eines Riesen Haus. Der Riese war ausgegangen, und seine Mutter empfing das Mädchen gar freundlich, gab ihm gut zu essen und zu trinken und versteckte[142] es dann unter das Bett des Riesen. Als der Riese nun heim kam, sah er sich überall um und sprach »Ich rieche, rieche Menschenfleisch.« Doch die Mutter lachte und sagte »Was du doch dumm bist! Ich habe eine Glucke unter dein Bett gesetzt, und du denkst, das ist Menschenfleisch.« Am andern Morgen ging der Riese wieder aus, und die Mutter holte das Mädchen unter dem Bett hervor, gab ihm ein köstliches Frühstück, und dann wanderte das Mädchen weiter und kam am Abend wieder in ein Riesenhaus. Da war es grade so wie im ersten. Der Riese sprach wieder »Ich rieche, rieche Menschenfleisch«; doch als er unter das Bett sehen wollte, sprach seine Mutter »Ich habe eine Gans darunter gesetzt: störe sie nicht; sie brütet sonst nicht aus.« Der Riese glaubte es auch, und am Morgen bekam das Mädchen wieder ihr Frühstück und ging weiter über die Berge und Felder; aber am Abend war es nicht anders, sie mußte wieder bei einem Riesen über Nacht bleiben. Den betrog seine Mutter auch und sprach »Ich habe eine Ente unter dein Bett gesetzt.« Doch es war wieder nicht wahr, sondern das Schwesterlein der beiden Raben lag darunter; aber es war klug, rührte sich nicht und kicherte nicht einmal.

Am vierten Tag nun kam das Mädchen auf einen hohen, hohen Berg, und auf der Spitze des Berges sah sie eine Thür; die hob sie auf und gelangte in ein niedliches Kämmerchen: da standen zwei weiße Bettlein und ein Tisch, und auf dem Tische standen zwei kleine Teller mit Speisen und zwei[143] Becherlein mit Wein. Und weil das Mädchen seit dem Morgen nichts gegessen hatte, nippte es von Allem, was da war; in den einen Becher aber warf sie den Ring, den sie am Finger trug, und versteckte sich dann unter ein Bett. Nicht lange, so kamen zwei Raben durch das Fenster herein geflogen. Sie schüttelten sich die Federn ab, und da waren es zwei schöne Jünglinge, die setzten sich an den Tisch. Und als sie aßen, sprachen sie »Wer hat gegessen von meinem Tellerlein?« und als sie tranken, sprachen sie »Wer hat getrunken aus meinem Becherlein?« Als aber der jüngste Bruder seinen Wein austrank und den Ring im Grunde des Bechers fand, da rief er »Unser Schwesterlein ist da! unser Schwesterlein ist da!« und sie suchten durch die ganze Kammer und fanden sie unter dem Bett. Da gab es denn eine große Freude: und das Schwesterlein erzählte, es sei gekommen um sie zu erlösen. »Ach« sprachen sie, »das kannst du nicht: das ist viel zu schwer für dich. Wer uns erlösen will, der muß ein ganzes Jahr an einem Hemde nähen und darf kein Wort dabei sprechen; und wenn er nur ein einziges Wort spricht, so ist alle Mühe verloren.« Doch das Mädchen sagte fröhlich »Wenn es nicht mehr ist, so sollt ihr übers Jahr erlöst sein.« Unterdeß war schon eine Stunde vergangen und die Jünglinge verwandelten sich wieder in Raben und flogen davon. Das Mädchen aber setzte sich in eine hohle Weide und fing an dem Hemde zu nähen an.[144]

Nun kam einst ein Jäger des Weges, und als er an der Weide vorbei ging, blieben seine Hunde stehen, schnupperten an ihr herum und waren nicht wegzubringen. Da holte der Jäger einige Leute aus dem Dorfe und ließ die Weide umhauen, und heraus sprang das schönste Mädchen, das seine Augen gesehen hatten. Doch es sprach kein Wort, wie viel man es auch fragte. Der Edelmann des Dorfes hörte bald von der schönen Jungfrau, und weil er ein Junggesell war, nahm er sie zur Frau; und eh das Jahr um war, bekamen sie eine hübsche kleine Tochter. Die Mutter des Edelmanns aber war zornig, daß ihr Sohn das fremde Mädchen geheiratet hatte, das man in einem Weidenbaume gefunden, und das nicht einmal reden konnte. Und als der Edelmann eines Tages ausgegangen war, ließ sie der jungen Frau das Kind wegnehmen, setzte es in einem Kästchen aufs Meer und klagte sie dann bei ihrem Sohne an daß sie eine Menschenfresserin sei. Das wollte der Edelmann lange nicht glauben; doch da die Mutter auch alle seine Räthe bestochen hatte, und sie alle sagten, die Frau müsse sterben, weil sie ihr Kind umgebracht habe, so mußte er zuletzt nachgeben, und die Mutter befahl ihre Schwiegertochter in Öl zu sieden. Da wurde bald ein mächtiger Kessel mit Öl gefüllt, dürres Holz darunter gelegt und die Frau hineingesetzt und festgebunden. Sie nähte aber immerfort noch an dem Hemde, an dem sie alle Tage des Jahres gearbeitet hatte. Man holte schon das Feuer[145] um das Holz unter dem Kessel anzuzünden: da standen plötzlich zwei Männer auf der Schwelle, und die Frau schrie hell auf vor Freude; denn es waren ihre Brüder, das Jahr war um, und sie waren erlöst. Nun erzählte sie Alles, wie es gekommen war, weshalb sie das Jahr über geschwiegen habe, und wie die böse Schwiegermutter ihr das Kind hatte nehmen lassen. Das Kind aber hatten die Brüder, als sie noch Raben waren, mit dem Kästchen auf ihren Flügeln aus dem Meere getragen, und sie brachten es ihr wieder. Da weinte der Edelmann und bat sie vielmal um Vergebung, daß er seiner Mutter geglaubt und sie für eine Mörderin gehalten hatte. Und sie vergab es ihm wohl, doch seine Frau wollte sie nicht länger sein, sondern zog mit ihren Brüdern und dem Töchterlein heim zu ihrer Mutter.

Quelle:
Emil Sommer: Sagen, Märchen und Gebräuche aus Sachsen und Thüringen 1. Halle 1846, S. 141-146.
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