Sechstes Capitel.

[47] Als ich am nächsten Tage erwachte, dauerte es lange, bis ich mich nur einigermaßen in meine Situation finden konnte. Mein Schlaf war gegen Morgen von schweren Träumen geängstigt worden, und diese Träume warfen noch ihre dunkeln Schatten über meine Seele. Ich glaubte noch die Stimme meines Vaters zu hören, und jetzt erinnerte ich mich auch, was es gewesen war. Ich war vor meinem Vater geflohen, bis ich an einen glatten Teich kam, in welchen ich mich hineinwarf, um meinem Verfolger schwimmend zu entgehen. Aber der glatte Teich hatte sich plötzlich in ein wildbewegtes Meer verwandelt, von dessen Wellen ich bald zum Himmel geschleudert, bald in den Abgrund gerissen[47] wurde. Eine fürchterliche Angst kam über mich; ich wollte rufen: Vater, rette! aber ich vermochte es nicht, und mein Vater sah mich nicht, trotzdem er immer auf Armeslänge, wie es schien, an. Ufer hin und herlief, die Hände rang und nach seinem Sohn jammerte, der sich ertränkt habe.

Ich strich mir mehrmals mit der Hand über die Stirn, um das entsetzliche Bild zu verscheuchen, und schlug entschlossen die Augen auf, mich in dem Zimmer umzusehen, in welches mich mein Wirth gestern Nacht selbst geführt hatte. In dem großen kahlen Gemach herrschte ein Halbdunkel, so daß ich anfangs meinte, es sei noch sehr früh am Tage; aber meine Uhr war auf neun stehen geblieben, und ich überzeugte mich bald, daß die grüne Dämmerung durch Bäume hervorgebracht wurde, die ihr dichtes Gezweig unmittelbar gegen die Fenster drückten. Eben stahl sich ein dünner Strahl durch eine Oeffnung und streifte die Wand mir gegenüber, auf welcher sonderbare Figuren gemalt schienen, bis ich, genauer hinsehend, bemerkte, daß die dunkle Tapete sich von dem helleren Untergrunde hier und da abgelöst hatte und in Fetzen herabhing, die als phantastische Kleider grotesker Gestalten gelten mochten.

Ueberhaupt sah es in dem Raum so unwirklich wie möglich aus. Von der Decke war der Stuck an einzelnen Stellen herabgefallen; man hatte es nicht für nöthig erachtet, die weißen Trümmer von der Diele zu entfernen, die einst getäfelt gewesen war, jetzt aber nach allen Richtungen auseinanderklaffte. Die ganze Einrichtung bestand aus einem großen Himmelbett, dessen Vorhänge aus gänzlich verschossenem grünen Damast bestanden; zwei ebenfalls mit einst grün gewesenem Damast überzogenen Lehnstühlen, von denen nur der eine seine vier Beine hatte, während der andere in so viel Jahren auf dreien zu stehen noch immer nicht gelernt zu haben schien und sich müde gegen die Wand lehnte; außerdem war ein Waschtisch da aus weiß angestrichenem Tannenholz, welcher von dem drüber hangenden großen ovalen Spiegel in reichem alterthümlichen Rococo-Rahmen höchst wunderlich abstach, obgleich allerdings auch an diesem Prachtstück die Vergoldung mittlerweile braun geworden war.[48]

Ich stellte diese Beobachtungen an, als ich meine Kleider anlegte, die während der Stunden, die ich geschlafen, den wünschenswerthen Grad von Trockenheit noch keineswegs erlangt hatten. Indessen war dies eine Unbequemlichkeit, mit der ich es leicht nahm; aber mir ging der Gedanke durch den Kopf, wie es morgen und in Zukunft mit meiner Toilette werden sollte? Woran sich dann die naheliegende Betrachtung schloß: Und was soll nun überhaupt aus dir werden?

Die Beantwortung dieser Frage mußte ihre eigenthümlichen Schwierigkeiten haben, wenigstens kam ich nicht gerade weit damit; auch meinte ich, es werde verständig sein, bevor ich mich entschiede, was ja überdies so sehr große Eile nicht habe – meines gütigen Wirthes Rath einzuholen. Sonderbar! Ich hatte bis zu diesem Tage den Rath Derer, welche doch wohl vorzugsweise berufen und in der Lage waren, mir mit ihrer besseren Einsicht zu Hülfe zu kommen, stets in den Wind geschlagen, hatte stets behauptet: Ich wisse allein, was ich zu thun habe; und jetzt sah ich mit einer Art von gläubiger Zuversicht zu einem Manne auf, den ich eben erst, und das unter gewiß nicht Vertrauen einflößenden Verhältnissen kennen gelernt hatte, und dessen Name überdies verrufen war weit und breit. Vielleicht lag darin gerade für mich die größte Anziehungskraft. Der »Wilde Zehren« war in der Phantasie des Knaben gleich hinter Rinaldo Rinaldini und Karl Moor gekommen, und ich hatte meinen Freund Arthur, der die abenteuerlichsten Geschichten von ihm zu erzählen wußte, glühend um einen solchen Onkel beneidet. In den letzten Jahren war weniger von ihm gesprochen worden; ich hatte den Steuerrath einmal – es war im Ressourcegarten – in meines Vaters und einiger anderer Herren Gegenwart »Gott danken« hören, daß der »tolle Christ« nun doch endlich auch vernünftig geworden sei und die Familie von der beständigen Angst, es werde einmal ein »böses Ende mit ihm nehmen«, sich erlöst halten dürfe. Bei derselben Gelegenheit war auch von einer Tochter des »Wilden« die Rede gewesen; und die Herren hatten die Köpfe zusammengesteckt, und der Justizrath Heckepfennig hatte die Achseln gezuckt. Später erzählte mir Arthur, seine Cousine sei einmal mit einem jungen Hauslehrer davon gelaufen, aber nicht weit gekommen, da der Onkel den Flüchtlingen nachgeritten sei und sie noch vor der Fähre eingeholt habe. Uebrigens solle sie sehr schön sein, und da thue es ihm um so mehr leid, daß der Vater und der Onkel sich so schlecht ständen; denn dadurch sei es gekommen, daß er[49] Konstanze (ich erinnerte mich des Namens) als Kind einmal und dann nie wieder gesehen habe.

An dies Alles, und was sich sonst daran reihte, dachte ich, während ich meine einfache Toilette vor dem halb erblindeten Spiegel mit dem braungewordenen Rococorahmen beendete und im Interesse der schönen Cousine meines Freundes die langsame Entwickelung des Bärtchens, das seit einiger Zeit meine Oberlippe zu schmücken begann, verwünschte. Ich ergriff den Seemannshut, den ich seit gestern Abend getragen, und verließ das Zimmer, Herrn von Zehren aufzusuchen.

Doch zeigte sich bald, daß dieser selbstverständliche Wunsch nicht eben so einfach in's Werk zu richten war. Das Zimmer, aus welchem ich kam, hatte glücklicherweise nur zwei Thüren gehabt; das, in welches ich trat, hatte aber bereits drei, von denen ich allerdings, wenn ich nicht wieder in mein Schlafgemach zurückkehren wollte, nur zwischen zweien die Wahl hatte. Es schien, daß ich nicht die rechte getroffen; denn ich kam auf einen schmalen Corridor, welcher sein äußerst spärliches Licht durch eine verschlossene und mit einem Vorhang verhangene Fensterthür erhielt. Eine andere, zu der ich mich hintastete, öffnete sich in einen Saal von den stattlichsten Dimensionen, dessen drei Fenster auf einen großen parkartigen Garten gingen. Aus diesem Saal gelangte ich in ein großes, zweifenstriges Gemach, das nach dem Hofe heraus lag, und aus diesem glücklich wieder in dasjenige zurück, welches sich neben meinem Schlafgemach befand, und von welchem ich ausgegangen war. Ich mußte sehr lachen; aber das Gelächter schallte so fremdartig-hohl, daß ich plötzlich wieder still wurde. Und es war kein Wunder, wenn mein Lachen in diesen Räumen befremdend klang. Sie sahen nicht aus, als ob sie in letzterer Zeit allzu viel Töne der Art vernommen hätten, wie lustig es auch früher in denselben mochte zugegangen sein. Denn auch dieser Raum war, wie mein Schlafgemach, so gut wie kahl, mit eben solchen zerfetzten Tapeten, zerbröckelnder Decke, wurmstichigen, halb zertrümmerten Möbeln, die einst ein fürstliches Gemach geziert haben würden.

Und so war es in den übrigen Räumen, durch die ich gewandert war, und die ich jetzt bedächtiger als das erste Mal durchschritt. Ueberall dasselbe Bild der Verwüstung und Verödung;[50] überall stumme, wehmüthige Zeugen dahingeschwundenen Glanzes: hier und da an den Wänden lebensgroße Portraits, die gespenstergleich in den dunkeln Hintergrund, aus welchem sie einst hervorgeglänzt hatten, zurückzuweichen schienen; zerbrochene Marmorkamine, in welchen eine dicke Staub- und Aschendecke auf halbverbrannten Scheiten lag; in einem Raum ungeheuere Haufen von Büchern in alten, ehrwürdigen Einbänden von Schweinsleder, unter welche, als ich mich näherte, ein paar Ratten huschten; in einem andern, sonst ganz leeren, eine Guitarre mit zerrissenen Saiten und die Scheide eines Galanteriedegens mit breitem seidenen Bandelier, das einst blau gewesen war. Ueberall Schutt und Staub und Spinngewebe, überall vergilbte oder zerbrochene Fensterscheiben, durch welche die Vögel Stroh und Unrath hereingetragen hatten (an einem Stuckfries klebten sogar ein paar jetzt verlassene Schwalbennester); überall eine dumpfe, modrige Atmosphäre, daß ich hoch aufathmete, als mich ein glücklicher Zufall, nachdem ich mindestens noch ein halbes Dutzend Gemächer durchwandert, auf einen weiten Flur gelangen ließ, von welchem eine breite Treppe aus Eichenholz mit alterthümlichen Schnitzereien nach unten führte.

Auch dieses Treppenhaus, das einstmals mit seinen gemalten Fenstern und den dunkeln Panelen, die beinahe bis an die Stuckdecke reichten, mit seinen Hirschgeweihen, alten Gewaffen und Standarten ungemein stattlich und vornehm gewesen sein mußte, bot jetzt nur noch ein trauriges Bild von Verwüstung und Verödung, und langsam, ganz verwundert und gewissermaßen betäubt von Allem, was ich gesehen und noch sah, stieg ich die Treppe hinab. Mehr als eine Stufe knarrte und knackte, während mein Fuß sie betrat, und als ich zufällig die Hand auf das breite Geländer legte, fühlte das Holz sich sonderbar weich an; aber es war nur der in Jahr und Tag aufgehäufte Staub, zu dessen Reich, wie es schien, auch die alte Treppe gehörte.

Ich wußte wohl, daß ich heute Nacht, als mein Wirth selbst mich in mein Schlafgemach leitete, den Weg, den ich eben gekommen, nicht gegangen war. Es führte, wie ich später erfuhr, aus einem Nebenflur eine steile Treppe direct zu jenem dunkeln Corridor, der an mein Schlafgemach stieß. Auf dem großen untern Hausflur, in welchem ich jetzt stand, war ich also noch nicht gewesen, und da ich nicht erst voraussichtlich[51] vergebens an ein halbes Dutzend Thüren pochen mochte, die große Hausthür aber, der Treppe gegenüber, wie ich mich überzeugte, verschlossen war, schritt ich einen langen schmalen Gang hinab, an dessen Ende ich eine Thür offen stehen sah, und kam in einen kleinen Hof. Die niedrigen Gebäude, welche denselben umgaben, mochten früher zu Küchen- und andern häuslichen Zwecken gedient haben, jetzt standen sie sämmtlich leer und blickten mit ihren scheibenlosen Fensterhöhlen und zertrümmerten Ziegeldächern gar kläglich zu dem kahlen, verwitterten Hauptgebäude empor, wie ein Haufen halbverhungerter Hunde zu ihrem Herrn, der selber nichts zu essen hat.

Ich war just kein Kind mehr und nichts weniger als zart organisirt und eine leichte Beute phantastischer Stimmungen, aber ich gestehe, daß mir zwischen diesen Häuserleichen, aus denen die Seele offenbar längst entflohen war, ganz wunderlich zu Muthe wurde. Bis jetzt war ich auch noch nicht auf die kleinste Spur thätigen Menschenlebens gestoßen. Wie das hier lag und stand, ein Tummelplatz für Eulen und Spatzen, Ratten und Mäuse, mußte es seit Jahren gelegen und gestanden haben. In dem von der bösesten aller Hexen verzauberten Schlosse konnte es nicht anders aussehen, und ich glaube nicht, daß ich mich übermäßig erschrocken haben würde, wenn aus dem großen Kessel der Leute- oder Waschküche, in die ich einen Blick warf, die Unholdin selbst mit struppigen Haaren sich erhoben und auf einem Besenstiel, an welchem es auch nicht fehlte, zum weiten Schornstein hinausgefahren wäre.

Die Waschküche hatte einen Ausgang auf einen von verwilderten Hecken umgebenen und von einem halbverschütteten Graben, über den eine verwitterte Planke führte, durchschnittenen kleinen Platz, der, wie man aus den Topfscherben und Knochen sah, einst für die Küchenabfälle reservirt gewesen war. Aber über die Schutthaufen war Gras gewachsen, und in dem Graben huschten ein paar wilde Kaninchen in ihre Löcher. Sie hatten allerdings von einer Zeit gehört, da Wasser in dem Graben gewesen und in dem Graben Ratten gehaust, es sollte aber undenkbar lange her sein, und das Ganze war vielleicht eine theologische Erfindung.

Von dieser Schädelstätte durch die Hecke in den Garten zu gelangen, hielt nicht schwer. Ich hatte ein Geräusch vernommen, das von einem Menschen herrühren mußte, und als[52] ich in der Richtung, aus welcher der Schall kam, weiter ging, sah ich einen alten Mann, der eine Karre mit dünnen Holzlatten belud, welche er aus einem hohen Staket mit einem Beile heraushieb. Das Staket hatte offenbar früher als Einzäunung eines Thierparkes gedient; auf der Wiese in dem ellenhohen Grase lagen die Trümmer von ein paar Wildhütten, die der Wind umgeworfen; die Hirsche, welche sich dort ihr Futter aus den Raufen gezogen und das stolze Geweih hier gegen die Gitter gedrückt hatten, waren vermuthlich in die Küche gewandert, weshalb sollte das Gitter nicht denselben Weg gehen?

So meinte auch der alte verhuzzelte Mann, den ich bei dieser seltsamen Arbeit traf. Als er auf das Gut gekommen – es war noch bei Lebzeiten des seligen Herrn – seien vierzig Stück Wild in dem Park gewesen; aber anno neun, als die Franzosen auf der Insel gelandet wären und arg in dem Schlosse gehaust hätten, seien über die Hälfte totgeschossen worden; die andern seien ausgebrochen und nicht wieder eingefangen, zum Theil aber später auf Jagden in den benachbarten Waldungen des Fürsten Prora erlegt.

Damit machte sich der alte Mann wieder an seine Arbeit; ich versuchte vergebens, ihn noch weiter in ein Gespräch zu ziehen. Sein Mittheilungsbedürfniß schien befriedigt, nur mit Mühe brachte ich noch heraus, daß der Herr zu einer Jagd gefahren sei und schwerlich vor Abend zurückkommen werde, wenn er überhaupt zurückkomme. – »Und das Fräulein?« – »Wird wohl da oben sein,« sagte der Alte, wies mit dem Stiel seiner Axt in den Park hinein, schob sich den Riemen seiner Karre über die altersgekrümmten Schultern und karrte langsam auf dem grasübersponnenen Wege dem Schlosse zu.

Ich blickte ihm nach, bis er hinter den Büschen verschwand; dann hörte ich noch das Quieken seiner Karre, und dann war Alles wieder still.

Lautlos still, gerade wie in dem verödeten Schlosse. Aber hier hatte die Stille nichts Peinliches; hier blaute doch der Himmel, an dem auch nicht das kleinste Wölkchen zu sehen war; hier schien doch die Morgensonne glänzend herab aus dem blauen Himmel und malte die Schatten der ehrwürdigen Bäume auf die weiten Wiesen und glitzerte in den Regentropfen, die noch von dem Gewitter der Nacht in den Büschen[53] hingen. Und dann schauerte manchmal ein Lüftchen vorüber, und ein paar regenschwere Zweige beugten sich, und die langen Grashalme auf den Wiesen nickten.

Das war wunderschön. Ich athmete voll die kühle, balsamische Luft; wieder empfand ich das Entzücken, das ich gestern Abend empfunden, als die wilden Schwäne hoch über mir durch den Aether rauschten. Wie oft, wie oft in spätern Tagen habe ich an jenen Abend, an diesen Morgen gedacht und mir gesagt, daß ich da, trotz alledem, trotz der Thorheit und des Leichtsinns und des Frevelmuthes, glücklich, unendlich glücklich gewesen bin – ein kurzlebiges, verräterisches Glück, ich weiß es wohl, aber doch ein Glück – ein Paradies, in welchem wir nicht weilen können, aus welchem das rauhe Leben und die Natur selbst uns vertreiben – und doch ein Paradies!

Langsam weiter schlendernd drang ich tiefer in die grüne Wildniß, denn eine Wildniß war's. Kaum daß hier und da manchmal vor wucherndem Kraut und wildwachsendem Buschwerk der Weg zu erkennen war, den einstmals die Schleppen schöner Damen gestreift haben, oder die Füßchen anmuthiger Kinder an der Hand der Wärterin dahingetrippelt sein mochten. Das Terrain wurde hügelig, der Park war zu Ende, über mir wölbten sich die mächtigen Kronen uralter Buchen. Dann ging es wieder hügelab, der Wald that sich auseinander, und ich stand am Rande eines mäßig großen, runden Weihers, in dessen schwarzem Wasser sich die fast überall bis an seinen Rand herandrängenden Riesenbäume spiegelten.

Ein paar Schritte von mir, an einer etwas erhöhten Stelle des Ufers, an dem Fuße eines vielhundertjährigen Baumes, war eine niedrige Moosbank angebracht; auf der Bank lag ein Buch und ein Handschuh. Ich blickte mich nach allen Seiten um und lauschte nach allen Seiten; es blieb todt und still, nur die rothen Sonnenstrahlen spielten durch das grüne Gezweig und manchmal wehte ein Blatt herab auf das schwarze Wasser des Weihers.

Ich konnte der Neugier nicht widerstehen; ich näherte mich der Bank und nahm das Buch. Es war Eichendorffs: »Aus dem Leben eines Taugenichts.« Ich hatte noch nie etwas von Eichendorff gehört, geschweige denn gelesen. Ueber den Titel mußte ich lachen; es war, als ob mich Jemand[54] beim Namen gerufen; aber ich hatte damals kein besonderes Interesse für Bücher; so legte ich es aufgeschlagen, wie ich es gefunden, wieder hin und griff nach dem Handschuh, nicht, ohne mich vorher noch einmal umgeblickt zu haben, ob nicht etwa doch die Eigenthümerin Zeuge meiner Dreistigkeit sein könne.

Denn dieser Handschuh gehörte der schönen Cousine Arthurs; wem sonst sollte er gehören? Der Schluß war sehr einfach, wie denn auch die Thatsache, daß eine junge Dame einen Handschuh auf ihrem Ruheplatze hatte liegen lassen, für den Verstand des Verständigen nichts besonders Merkwürdiges gehabt haben würde. Aber mit dem Verstand von jungen neunzehnjährigen Leuten meines Schlages kann man nicht viel Wesens machen; wenigstens muß ich bekennen, daß, als ich das leichte zierliche Ding so in der Hand hielt, und ein feiner lieblicher Duft daraus zu mir aufstieg, mein Herz auf eine ganz unverständige Weise anfing zu schlagen. Und doch hatte ich Emilie Heckepfennig schon unzählige Fensterparaden gemacht und sogar einmal vier Wochen lang ein Band, das sie mir beim Tanze geschenkt, auf dem Herzen getragen. Das Band hatte nicht die Kraft gehabt, wie dieser Handschuh; es mußte ein Zauber im Spiele sein.

Ich ließ mich auf die Moosbank gleiten und versank in Träumereien, während ich den Handschuh bald auf den Sitz neben mich legte und bald wieder ergriff, ihn mit immer gesteigerter Aufmerksamkeit zu betrachten, als wäre er der Schlüssel zu dem Geheimniß meines Lebens.

So mag ich wohl eine Viertelstunde lang gesessen haben, als ich plötzlich, zusammenschreckend, aufhorchte. Wie vom Himmel her kam ein Klingen und Singen, erst leise, dann lauter, und endlich vernahm ich deutlich eine weiche Frauenstimme und die schwirrenden Töne einer Guitarre. Die Stimme sang eine Strophe, die der Anfang oder der Refrain eines Liedes sein mochte:


Am Tage die Sonne,

Wohl hat sie mich gerne ...


»Am Tage die Sonne« klang es noch einmal, aber schon ganz aus der Nähe, und jetzt sah ich auch die Sängerin, welche mir die dicken Stämme der Buchen bis dahin verborgen hatten.[55]

Sie kam einen Pfad herab, der ziemlich steil zwischen den Bäumen aufwärts führte, und wie sie jetzt an einer Stelle, auf welche durch das Blätterdach ein helles Sonnenlicht fiel, stehen blieb und sinnend nach oben blickte, hat sich mir ihr Bild eingeprägt, wohl für immer; denn heute nach so vielen Jahren sehe ich sie, wie ich sie damals sah.

Wie ich sie damals sah: ein reizendes, tief brünettes Mädchen, die das wundervollste Ebenmaß der Glieder kleiner erscheinen ließ, als sie in Wirklichkeit war, und für deren fremdartige, ich möchte sagen, zigeunerhafte Erscheinung ein phantastischer Anzug von dunkelgrünem, mit goldenen Litzen besetzten Sammt die passendste Tracht schien.

Sie trug an einem rothen Bande eine kleine Guitarre, über deren Saiten ihre Finger glitten, wie über sie selbst die sonnigen Lichter durch die leise wehenden Zweige.

Arme Konstanze! Kind der Sonne! Weshalb, wenn sie dich so gerne hatte, tödtete dich die Mutter nicht mit diesem ihrem Strahl, daß ich dir ein Grab hätte graben können in dieser Waldeinsamkeit, fern von der Welt, nach der dein Herz so heiß verlangte, dein armes, thörichtes Herz!

Ich stand, im Anschauen verloren, regungslos, selbst als sie jetzt mit einem tiefen Seufzer aus ihrem Traum erwachte und ihre Augen, während sie den Pfad herabkam, mich trafen. Ich bemerkte, daß sie leicht zusammenfuhr, wie Jemand, der einen Menschen findet, wo er nur einen Baumstamm vermuthen konnte, aber die Regung war ganz momentan; dann sah ich, daß sie mich unter den gesenkten Wimpern hervor betrachtete, und daß ein nur zu schnell verschwindendes Lächeln um ihre Lippen spielte; den Ausdruck einer an Betäubung grenzenden Bewunderung in meinem Gesicht mochte ein schönes, sich ihrer Schönheit bewußtes Mädchen wohl kaum ohne Lächeln ansehen können.

Ob sie oder ich zuerst gesprochen, weiß ich nicht mehr, auch ist mir von dieser ganzen ersten Unterredung nichts erinnerlich, nur der Klang ihrer weichen, etwas tiefen Stimme, die mir wie lieblichste Musik war. Dann müssen wir zusammen aus dem Waldesgrunde heraufgestiegen sein auf die Uferhöhe, und der Wind, der vom Meere heraufwehte, muß mir die Besinnung wieder gegeben haben, denn ich sehe das stille blaue Meer im Morgensonnenschein sich grenzenlos vor uns ausdehnen, und den weißen Schaumstreifen zwischen den[56] Steinen des Strandes wohl hundert Fuß unter uns, und ein paar große Möven, die sich hin- und herschwingen und dann auf das Wasser senken, wo sie wie Sterne blinken; und ich sehe das Haidekraut des Felsplateau in dem leisen Winde nicken und höre ein Seufzen und Raunen um die scharfen Uferkanten, und zwischendurch höre ich Konstanzens Stimme:

»Meine Mutter ist eine Spanierin gewesen, so schön wie der Tag, und mein Vater hat sie entführt, als er dorthin kam, einen Freund zu besuchen, den er in Paris kennen gelernt hatte; der Freund war meiner Mutter Bruder und hat meinen Vater sehr geliebt, aber doch hat er's nicht gewollt, daß sie sich heiratheten, denn er ist ein strenggläubiger Katholik gewesen, und mein Vater hat nicht katholisch werden wollen, sondern über alle Religionen nur gelacht und gespottet. Da sind sie heimlich geflohen, und der Spanier ist ihnen nachgesetzt und hat sie eingeholt mitten auf öder Haide in der Nacht, und da ist es zu scharfen Worten gekommen und sie haben zu den Degen gegriffen, und mein Vater hat den Bruder seiner Geliebten erstochen. Sie aber hat es viel später erfahren, denn sie ist ohnmächtig gewesen während des Kampfes, und mein Vater hat sie glauben machen können, er habe sich von dem Schwager in Freundschaft getrennt. Dann sind sie nach langer Irrfahrt hierher gekommen; aber meine Mutter hat sich immerdar nach ihrer Heimath gesehnt und immer gesagt, es sei ihr so schwer um's Herz, als ob sie einen Mord auf der Seele habe. Endlich hat sie's doch durch einen Zufall erfahren, wie ihr Bruder gestorben, den sie unendlich geliebt hat, und ist tiefsinnig geworden und immer umher gegangen Tag und Nacht und hat Jeden, der ihr begegnet ist, gefragt, wo doch der Weg nach Spanien gehe? Da hat sie mein Vater einschließen müssen, aber das hat sie nicht geduldet, sondern ist ganz rasend geworden und hat sich das Leben nehmen wollen, bis man sie wieder freigelassen und sie wieder Jeden gefragt hat: wo geht der Weg nach Spanien? Und eines Morgens hat sie sich in den Weiher gestürzt, von dem wir herkamen, und als man sie herauszog, ist sie todt gewesen. Ich war damals drei Jahre alt und weiß nicht mehr, wie sie ausgesehen hat, aber die Leute sagen, sie sei noch schöner gewesen als ich.«

Ich meinte, das sei nicht möglich, und hatte das, weil ich während dessen an die arme Frau dachte, die sich in dem dunklen Wasser des Weihers ertränkte, so ernsthaft gesagt,[57] daß Konstanze wieder lächelte und sagte: ich sei gewiß der beste Mensch von der Welt und mir könne man Alles sagen, was einem so durch den Kopf gehe und über die Zunge laufe; das sei gar lieb. Dafür solle ich auch immer bei ihr bleiben und ihr treuer Georg sein und alle Drachen der Welt für sie todt schlagen. Ob ich das wolle? – Ich sagte, das wolle ich ganz gewiß.

Wieder spielte ein Lächeln um ihre rothen Lippen:

»Sie sehen ganz danach aus! Aber wie kommen Sie eigentlich zu uns, und was will der Vater mit Ihnen? Er hat mir Sie heute morgen, als er wegfuhr, so auf die Seele gebunden; er pflegt gerade nicht sehr zärtlich um das Wohl anderer Menschen besorgt zu sein; Sie müssen hoch in seiner Gunst stehen. Und wie kommt es, daß Sie einen Schifferhut tragen und noch dazu einen recht häßlichen? Ich denke, Sie sagten, Sie kämen von der Schule? Und giebt es denn so große Schüler? Das habe ich gar nicht gewußt. Wie alt sind Sie eigentlich?«

So plauderte das Mädchen, oder eigentlich war es kein Plaudern, denn sie blieb immer ernsthaft dabei, und es war mir oft, als ob sie, während sie sprach, an etwas ganz Anderes denke, wenigstens richteten sich ihre dunkeln Augen nur selten und dann immer mit einem Blick auf mich, als wäre ich kein lebendiger Mensch, sondern ein Bild, und oft fragte sie eine zweite Frage, ohne eine Antwort auf die erste abzuwarten.

Mir war das gerade recht; ich konnte so wenigstens den Muth gewinnen, sie wieder und wieder anzusehen und endlich kaum noch ein Auge von ihr zu verwenden. »Sie werden noch da hinabstürzen,« sagte sie, indem sie mir, als wir am Rande des steilen Ufers hingingen, leise mit dem Finger den Elnbogen berührte. – »Es scheint, Sie sind nicht schwindelig.«

»Nein,« sagte ich.

»Lassen Sie uns da hinaufgehen,« sagte sie.

Beinahe auf der Höhe des immer noch ansteigenden Vorgebirges lagen, von Buschwerk umgeben, die Ruinen einer Burg. Nur ein gewaltiger, mit Epheu fast gänzlich überwucherter runder Thurm hatte den Stürmen der Zeit und des Meeres getrotzt. Es waren dies die Ruinen der Zehrenburg, auf die gestern Arthur, als wir auf dem Dampfschiff daran vorüberfuhren, gedeutet; es war derselbe Thurm, bei[58] dem ich Emilie Heckepfennig zu seinen Gunsten abschwören sollte. Ich hatte mich dessen gestern geweigert; was war mir heute Emilie Heckepfennig?

Das schöne Mädchen hatte sich auf einen moosbewachsenen Stein gesetzt und schaute unverwandt in die Ferne; ich stand dicht bei ihr, an den alten Thurm gelehnt, und schaute unverwandt in ihr Angesicht.

»Das Alles hat einst uns gehört,« sagte sie, indem sie langsam mit der Hand die Linie des Horizontes nachzeichnete; »und dies blieb von der ganzen Herrlichkeit.«

Sie hatte sich schnell erhoben und begann einen schmalen Pfad, der sich durch den Ginster und das Haidekraut von der Höhe nach den Wäldern zog, hinab zu steigen. Ich folgte ihr. Wir kamen in den Buchenwald und wieder zu dem Weiher zurück, wo ihre Guitarre und das Buch noch auf der Rasenbank lagen. Ich war sehr stolz, als sie mir beides zu tragen gab und dabei sagte, daß sie die Guitarre noch Niemand anvertraut habe; dieselbe stamme von ihrer Mutter; nun aber solle ich diesen ihren größten Schatz beständig tragen und sie wolle mich spielen und singen lehren, wenn ich bei ihnen bliebe, oder würde ich nicht bei ihnen bleiben?

Ich sagte, ich wüßte es nicht, ich hoffte es, und der Gedanke, jetzt wieder fort zu gehen, fiel mir schwer auf die Seele.

Wir waren bei dem Schlosse angelangt.

»Geben Sie mir die Guitarre,« sagte sie; »das Buch können Sie behalten; ich kenne es auswendig. Haben Sie denn schon gefrühstückt? Nein? Sie Aermster, Sie armer Georg; da ist es gut, daß uns kein Drache begegnet ist. Sie müssen sich ja kaum auf den Füßen halten können.«

Eine Seitenthür, die ich früher nicht bemerkt hatte, führte in den von Vater und Tochter bewohnten Theil des Erdgeschosses. Konstanze rief eine alte Dienerin, der sie auftrug, mir ein Frühstück zu bereiten, während sie selbst sich auf ihr Zimmer begab, nachdem sie mir mit jenem schwermüthigen, schnell verschwindenden Lächeln – das ich nun schon öfter auf ihren schönen vollen Lippen gesehen hatte – die Hand gereicht.

Quelle:
Friedrich Spielhagen: Sämtliche Werke. Band 1, Leipzig 1874, S. 47-59.
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