Fünfunddreißigstes Capitel.

[398] Und einen Sturm gab's, wie er seit Menschengedenken nicht über diese Küste getobt war, die doch Jahr aus Jahr ein so manchen wackern Nordost über ihre niedrigen Sand- und Kreideufer brausen hört.

Es war um Mitternacht, als ich von einem donnerähnlichen Krachen aufwachte, vor welchem das alte Haus bis in seine Grundfesten erbebte und dem ein Prasseln und Knattern von herunterfallenden Ziegeln, zuschlagenden Thüren und Läden folgte, wie auf die Detonation einer Batterie von Fünfundzwanzigpfündern das Knattern und Knallen des Klein-Gewehrfeuers. Das war der Sturm, der so lange schon in der Natur und in meinem Gemüth sich verkündet hatte! Mein[398] erster Gedanke waren sie, da drüben in dem gartenumgebenen Hause. Mit einem Satze war ich von meinem Lager und im Nu in meinen Kleidern, als der Wachtmeister den grauen Kopf zur Thür hereinsteckte.

»Schon auf?« sagte er; »aber davon müßte auch ein Bär mit sieben Sinnen aufwachen. Er wird auch aufgewacht sein.«

Der Alte sagte nicht, wer auch aufgewacht sein sollte; es war das zwischen uns beiden nicht nöthig.

»Ich wollte eben zu ihm«, sagte ich.

»Ist recht«, sagte der Alte. »Man wird derweile hier bleiben; wird hier schon Jemand nöthig sein, der den Kopf auf der rechten Stelle hat. Das ist ja ein heidenteufelmäßiger Spektakel; das ist schlimmer als vor acht Jahren, und schon damals wollten die Leute nicht in den Schlafsälen bleiben, und es fehlte nicht viel, so wäre es zu Mord und Todtschlag gekommen.«

Während dieser kurzen Unterredung hatten sich die gewaltigen Stöße zweimal mit womöglich noch größerer Heftigkeit wiederholt; es war ein Heulen und Donnern – wir hatten laut sprechen müssen, um uns nur verstehen zu können. Das war im Zimmer – wie mochte es draußen sein!

Ich erfuhr es eine Minute später, als ich über den Gefängnißhof ging. Eine grabesnächtige Finsterniß lag wie ein dickes, schwarzes Leichentuch über der Erde; kein Stern, auch nicht der leiseste Schimmer einer Helligkeit. Der Orkan wüthete zwischen den hohen Mauern wie ein Raubthier, das sich zum ersten Mal im Käfig sieht. Ich hatte, trotz meiner Kraft und meines schweren Körpers, Mühe, dem Ungeheuer zu trotzen, das mich mit seinen Pranken hinüber und herüber warf. So schwankte ich zwischen Ziegeln, die von den Dächern rasselten, durch die schwere Finsterniß bis zum Hause des Directors, aus dessen Fenstern jetzt eben hier und da Licht aufblinkte.

Auf dem unteren Flur begegnete ich Paula. Sie trug eine brennende Kerze in der Hand. Der Schein fiel hell in ihr blasses Gesicht und ihre großen Augen, die sich, als sie mich erblickte, mit Thränen füllten.

»Ich wußte es, daß Sie kommen würden«, sagte sie. »Es ist eine furchtbare Nacht. Er will durchaus hinüber in das Gefängniß, und ist die letzten Tage so unwohl gewesen![399] Ich wage nicht, ihn zu bitten, daß er bleibt. Er muß ja fort, wenn es seine Pflicht erheischt. Da ist es nun gar lieb von Ihnen, daß Sie gekommen sind.«

Die Thränen, die in ihren Augen geglänzt, rollten jetzt langsam über ihre bleichen Wangen. »Lachen Sie mich nicht aus«, sagte sie; »aber ich habe alle diese Tage das Gefühl gehabt, es müsse ein Unglück geben.«

»Das haben wir wohl Alle gehabt, liebe Paula. Es ist auch ein Stück Egoismus, zu glauben, daß ein Gewitter, welches über Tausenden und Tausenden in der Luft steht, gerade uns treffen soll.«

Ich hatte das recht muthig sagen wollen; aber meine Stimme zitterte, und bei den letzten Worten mußte ich meinen Blick abwenden.

»Ich will zum Vater, Paula,« sagte ich.

»Da kommt er schon«, sagte Paula.

Der Director trat aus seinem Gemache, ich sah noch eben, bevor er die Thür leise schloß, eine weiße Gestalt, die er, wie es schien, mit freundlichen Worten und Geberden im Zimmer zu bleiben genöthigt hatte. Es war Frau von Zehren. Hatte sie auch das Gefühl, daß ein Unglück in der Luft war? Vielleicht mehr noch als wir. Wer von uns Sehenden hört die leisen Geisterstimmen, die durch die Nacht der Blinden flüstern und raunen?

Eine tiefe Schwermuth lag auf seinem Gesicht, die sofort verschwand, und einem erstaunten Lächeln wich, als er uns Beide dastehen sah. Es war, wie wenn Jemand durch eine enge Felsschlucht schreitet, deren düstere Schatten auf seiner Stirn sich lagern und plötzlich, bei einer Wendung um einen scharfen Felsen, sieht er das freie Thal zu seinen Füßen, und ein breiter goldener Strom des Sonnenlichts ergießt sich über ihn.

»Sieh' da, Ihr lieben Beiden!« sagte er.

Er streckte die Hände nach uns aus.

»Ihr lieben Beiden«, wiederholte er.

Sah er uns? sah er aus dem Felsenthal in der Zukunft sonnige Weiten? Ich habe es mich später oft gefragt, wenn ich des geisterhaften, seligen Blickes dachte, mit welchem der Vater in dieser Stunde die geliebte Tochter sah, an der Seite des Mannes, den er wie seinen Sohn liebte. Doch das war nur ein Moment; dann trat die Gegenwart in ihre Rechte.[400]

»Sie sollen mich begleiten, Georg«, sagte er; »ich muß einen Gang durch das Gefängniß machen. Es kann nicht anders sein, als daß die Aufregung, die schon seit Tagen in uns Allen wühlt, auch die armen Gefangenen ergriffen hat. Da geht es denn ohne Heulen und Zähneklappen und Schreien nicht ab. Denkst Du noch, Paula, der Septembernacht vor acht Jahren? sie war so schlimm nicht, wie diese hier, und doch geberdeten sich die Leute schon wie die Rasenden.«

Paula nickte. »Ich weiß es noch recht wohl, Vater«, sagte sie. »Wie sollte ich nicht? Hattest Du doch hernach an den Folgen so viel zu leiden. – Da kommt Doris mit der Laterne,« fuhr sie schnell fort, während die Scham, auch nur versucht zu haben, ihren Vater von seiner Pflicht zurückzuhalten, auf ihren Wangen glühte. »Hier!«

Sie nahm dem Mädchen die große Laterne mit den zwei bereits angezündeten Lichtern aus den zitternden Händen und gab sie mir. Der Director winkte ihr freundlich-ernst mit den großen tiefen Augen, knöpfte sich den Rock zu, drückte den Hut fester in die Stirn und sagte, sich zu mir wendend: »Komm, Georg!«

Wir traten in die heulende, donnernde Finsterniß. In der rechten Hand trug ich die Laterne, meinen linken Arm hatte ich dem Director gegeben. Ich hatte gemeint, ihn, den Schwachen, durch die Gluth der letzten Wochen vollends Erschöpften, tragen, oder doch so gut wie tragen zu müssen, und wirklich waren seine ersten Schritte schwer und schwankend, wie die eines Kranken, der sich nach Wochen zum ersten Mal von seinem Lager erhebt. Mit einem Mal richtete er sich aus meinem Arm in die Höhe:

»Hören Sie, Georg? Ich sagte es ja.«

Wir schritten eben unter den Fenstern des einen der großen Schlafsäle hin, in welchem wohl hundert Gefangene zu dieser Stunde eingeschlossen waren. Die weiße Mauer hob sich nur noch eben aus der Finsterniß; durch die vergitterten Fenster schimmerte ein sehr schwaches Licht. Der Sturm raste an der Mauer hin, und pfiff schrill durch die Gitter der Fenster; aber lauter noch als des Sturmes Heulen und Pfeifen erschollen gräßliche Laute, die aus dem Innern des Gebäudes drangen. In der Nacht des Tartarus verirrte Seelen müßten solche Laute ausstoßen: »Licht, Licht!« rief es. »Wir wollen Licht!«[401]

»Schnell, Georg!« sagte der Director, mit großen Schritten vor mir her eilend, daß ich Mühe hatte, ihm zu folgen.

Wir traten durch die offene Thür in den weiten Flur, wo wir den Wachtmeister im lebhaftesten Streit mit dem Inspector und einem halben Dutzend Aufseher trafen.

»Man wird sehen, daß er mir Recht giebt,« hörte ich den braven Alten rufen. »Man müßte ja ein Bär mit sieben Sinnen sein; man müßte ja einen Zahnstocher nicht von einem Scheunenthor unterscheiden können! Steckt in drei Millionen Teufel Namen die Laternen an!«

»Ja, steckt die Laternen an,« sagte der Director, herantretend.

Alle wichen ehrerbietig zurück, nur der Inspector sagte mürrisch: »Es ist gar kein Grund, Herr Director, von der Hausordnung abzuweichen, und die Kerle wissen, daß kein Grund vorhanden ist; aber sie benutzen die Gelegenheit – das ist Alles.«

»Vielleicht doch nicht, Herr Müller,« sagte der Director. »Wir Beide, Sie und ich, haben noch nicht in einem eingeschlossenen Raume gesessen, zusammen mit hundert Andern im Dunkeln oder so gut wie im Dunkeln und in einer Nacht, wie diese, in der es ist, als wollte die Welt untergehen. Die Furcht ist ansteckend, wie der Muth. Folgen Sie mir; Sie und Süßmilch und zwei Andere, die die Laternen anzünden können.«

Mich nannte er nicht; er hielt es für selbstverständlich, daß ich ihm folgte. Wir bogen in den Corridor und gelangten zu der großen Thür, die in den Saal führte, an dessen Fenstern wir vorübergeschritten waren. »Licht, Licht!« heulte es von innen heraus und harte Fäuste trommelten gegen die eichene Thür, und dazwischen krachte es, als ob man irgendwie versuchte, sie zu sprengen.

»Oeffnen Sie!« sagte der Director zu dem Schließer.

Der Mann warf einen scheuen Blick auf den Inspector, der die Augen grollend zur Erde senkte.

»Oeffnen Sie!« wiederholte der Director.

Der Mann brachte zögernd den Schlüssel in das Schloß und hob die schwere Eisenstange aus den Krampen. Zögernd schob er einen und schob er den zweiten Riegel zurück. Als er die Hand an den dritten legte, blickte er noch einmal scheu zu dem Director auf, um dessen Lippen ein Lächeln schwebte.

»Sie haben doch sonst das Herz auf dem rechten Fleck, Martin,« sagte er.[402]

Mit einem Ruck zog Martin den Riegel zurück; die Flügel schlugen auseinander; ich werde das entsetzliche Schauspiel, das sich jetzt meinen Blicken bot, nie vergessen, und sollte ich das Alter der weißköpfigen Krähe erreichen.

Hinter der Thür aus Holz, in der Entfernung etwa eines Fußes war eine eiserne bis oben hinauf reichende, ebenfalls verschlossene Gitterthür. Die Holzthür wurde für gewöhnlich nicht geschlossen, damit die Wache aus dem Corridor einen Blick in den Schlafsaal hatte. Heute Nacht war es doch auf Befehl des Inspectors geschehen, um die Leute für ihr Revoltiren, wie er es nannte, zu strafen. Jetzt konnte er sehen, was er dadurch angerichtet.

Die Flügel der Holzthür schlugen auseinander und das helle Licht aus der Laterne fiel auf einen wüsten Knäuel, das sich hinter der Gitterthür zusammengekauert hatte, ein Knäuel von Menschenleibern, die übereinander geschichtet, durcheinandergeworfen waren; hier ein paar Arme hervorragend, dort ein paar Beine, wie aus einem Haufen Todter, die man auf einem Schlachtfeld kopfüber in eine gemeinschaftliche Grube geworfen hat, – nur daß dieser Knäuel sich bewegte, sich durcheinanderwälzte, und aus dem Knäuel dort und hier, und hier und dort und überall lebendige Augen starrten, fürchterliche, zornige, verzweifelte, wahnsinnige Augen.

»Leute,« rief der Director, – und seine sonst so leise Stimme war jetzt laut genug, den Lärm zu übertönen – »schämt Ihr Euch nicht? Wollt Ihr Euch verderben, um einer Gefahr zu entgehen, die nirgends existirt, als in der Dunkelheit, die Euch umgiebt, und in Euren Köpfen?«

War es die Stimme, die so muthig sprach? war es der Anblick des Mannes, war es die Wirkung des Lichtstrahls, der aus den Laternen der Schließer in das Chaos fiel – aber der Knäuel löste sich, die Arme fanden sich wieder zu den Beinen, die Beine standen wieder auf den Füßen; die Augen selbst verloren den wahnsinnigen Ausdruck; ja der Eine oder der Andere schlug sie, ich weiß nicht, ob geblendet oder beschämt, zu Boden.

»Gebt Raum, Leute!« sagte der Director, »damit ich zu Euch kann!« Sie wichen zurück. Die Gitterthür wurde aufgeschlossen; der Director trat hinein, von uns gefolgt.

»Nun seht, Kinder, wie thöricht Ihr seid;« fuhr er in freundlichem Tone fort; »da steht Ihr im Hemd, frierend, zitternd – Ihr solltet Euch wirklich schämen. Legt Euch[403] wieder zu Bett, oder zieht Euch an und bleibt auf; ich werde Euch die Laternen anzünden lassen, damit doch Jeder sehen kann, was für ein Hasenherz sein Nebenmann, und was für ein muthiger Kerl er selber ist.«

Die Leute blickten einander an, und über mehr als ein Gesicht, das noch eben von Angst verzerrt war, zog jetzt ein muthwilliges Lächeln; im Hintergrunde lachten ein paar laut auf.

»Das ist recht,« sagte der Director; »lacht nur! vor einem ehrlichen Lachen hält kein Teufel Stand, und nun gute Nacht, Kinder! Ich muß auch zu den Andern gehen!«

Unterdessen hatten die Aufseher die vier großen Laternen, welche an die Decke hinaufgezogen waren, herabgelassen und angezündet. Eine sanfte Helligkeit verbreitete sich durch den großen Raum. Draußen heulte und tobte der Sturm wie zuvor; aber den Sturm hier drinnen hatte ein gutes Wort, das in die dunklen Herzen fiel, gesänftigt.

»Laßt uns zu den Andern gehen,« sagte der Director.

Und weiter schritten wir durch den Corridor, in welchem heute der Lärm draußen unsere Schritte übertönte. Ueberall, wohin wir kamen, die furchtbarste Aufregung der Gefangenen, die, wenn man wollte, grundlos war, zum wenigsten in keinem Verhältnisse zu stehen schien mit den Ursachen, die sie hervor gebracht; überall dasselbe, bald mit wilden Flüchen, bald mit flehentlichen Bitten ausgesprochene Verlangen der armen Menschen nach Licht, und immer wieder nur Licht in die grauenhafte Nacht! Und überall gelang es dem ruhigen Zureden des Directors, die Halbwahnsinnigen zu beschwichtigen; nur die Insassen des einen Saales wollten oder konnten sich nicht zufrieden geben. In der That befand sich dieser Saal in einem Flügel des Gebäudes, welcher dem Anprall des Orkans noch mehr ausgesetzt war, als die übrigen Theile, und wo in Folge dessen die Wuth des Elementes alle Fesseln sprengte. Der donnerähnliche Knall, mit welchem die Windsbraut gegen die alten Mauern schlug, das wüthende Geheul, mit welchem sie um die Ecken raste, nachdem sie sich minutenlang mit der wahnsinnigsten Gewalt angestrengt, das verhaßte Hinderniß zu beseitigen, die wimmernden, klagenden, ächzenden, heulenden Töne, die, man wußte nicht wie und woher, erschallten – das Alles war furchtbar genug, auch eine freie Seele mit geheimem Grauen zu erfüllen. Dazu kam, daß in dem Augenblicke, in welchem der[404] Director mit den Leuten parlamentirte, von dem höheren Nebengebäude der Schornstein herabgeschlagen wurde und auf den Dachstuhl des Flügels fiel, so daß Hunderte von Ziegeln herabrasselten, und, wenn nicht die Gefahr, so doch den Lärm vermehrten. Die Leute verlangten, herausgelassen zu werden; sie würden Alles daransetzen, herauszukommen; sie wollten nicht bei lebendigem Leibe begraben werden!

»Aber, Kinder,« sagte der Director; »Ihr seid hier sicherer als irgendwo sonst; so fest wie dieser Saal ist kein anderer Theil des Gebäudes.«

»Er hat gut reden;« murrte ein vierschrötiger, krausköpfiger Kerl; »er geht nach Hause, und schläft in seinem weichen Bett.«

»Gieb mir Deine Matratze, Freund!« sagte der Director.

Der Kerl blickte verwundert drein.

»Deine Matratze, Freund;« wiederholte der Director; »Leih' sie mir für diese Nacht; ich will sehen, ob sie so hart ist, und ob es sich hier so schlecht schläft.«

Tiefe Stille folgte plötzlich dem wirren Geschrei; die Leute blickten einander verlegen an; sie wußten nicht, ob es Scherz sei oder Ernst. Aber der Director rührte sich nicht vom Platze. Schweigend, das Kinn in die Hand gestützt, gesenkten Hauptes, sinnend, stand er da; Niemand, und auch nicht ich, wagte ihn anzureden. Aller Augen wandten sich auf den trotzigen Burschen, als ob er zum Tode verurtheilt sei, und die Hinrichtung demnächst vollzogen werden solle. Und des Menschen Trotz war gebrochen; still ging er hin, holte seine Matratze, und trat mit derselben vor den Director.

»Da leg' sie hin, mein Freund,« sagte der Director. »Ich bin müde – ich danke Dir, daß Du mir zu einem Lager verhilfst.«

Der Mann breitete die Matratze auf dem Boden aus; der Director ließ sich darauf nieder, und sagte: »Nun legt Ihr Andern Euch auch. Sie, Herr Inspector Müller, gehen nach dem Krankenhause, und fragen dort, ob man meiner bedarf. Sie, Georg, bleiben bei mir.«

Der Inspector ging mit den Schließern; die Thür fiel in's Schloß; wir waren allein.

Allein unter ungefähr fünfzig Zuchthäuslern, zum größten Theil den schlimmsten und verwegensten Gesellen, welche die Anstalt in ihrem Schooße barg.

Aus den Laternen, die von der Decke herabhingen, fiel[405] ein mattes Licht auf die Reihen der Lagerstätten, die sich an den Wänden und in drei langen Linien durch das Gemach zogen. Die Leute hatten sich wirklich wieder hingelegt, oder kauerten doch auf ihren Lagern. Der, welcher dem Director seine Matratze hatte geben müssen, hätte sich auch legen können, denn es standen noch ungefähr ein halbes Dutzend leere Betten in dem Saale, aber er wagte es nicht, eins derselben zu berühren, und kauerte auf den nackten Dielen in einer dunklen Ecke. Ich stand mit verschränkten Armen an der steinerne Säule, welche die Mitte der Decke stützte, und sah dem wundersamen Schauspiele zu, das sich rings um mich her zeigte, und horchte dem Sturm, der draußen mit einer Gewalt fortwüthete, die kein Ermüden zu kennen schien. Der Director lag ganz still, den Ellenbogen aufgestemmt, das Haupt in der Hand. Er schlief, oder schien zu schlafen, doch war es mir, als ob von Zeit zu Zeit ein Zucken durch seinen Körper flog. Es war warm in dem Saale; aber, als wir über den Hof gingen, hatte uns ein Regenguß durchnäßt; er hatte keine Decke, und er hatte sich eben vom Krankenbett erhoben! »Wie soll dies werden?« seufzte ich aus der Tiefe meines Herzens.

Plötzlich richtete sich ein Mann in meiner Nähe, nachdem er schon mehrmals den Kopf nach dem Director gewendet, vollends empor, trat, die nackten Füße leise aufsetzend, an mich heran und murmelte: »Er darf da nicht so liegen bleiben, es wird sein Tod sein.«

Ich zuckte die Achseln. »Was sollen wir thun?«

Und plötzlich steht eine zweite Gestalt neben mir, und eine andere rauhe Stimme flüstert: »er muß nach Haus! Was soll er hier liegen und frieren um des krausköpfigen Schuftes willen? Wir wollen keine Schuld daran haben.«

»Nein, wir wollen keine Schuld daran haben,« murmeln andere Stimmen. Im Nu hat sich eine Schaar um mich versammelt, die mit jedem Augenblicke wächst. Von diesen Gesellen hat Keiner geschlafen, so wenig wie ich. Alle haben sie in ihre rauhen Herzen dieselben Gedanken gewälzt. Sie möchten ihr Unrecht wieder gut machen; sie wissen nicht, wie sie es anfangen sollen. Einer findet es endlich, er soll selber hingehen und ihn bitten! – »Ja, das soll er! – Wo ist er? – dahinten! – her mit ihm!«

Sie dringen in die Ecke, wo der Krausköpfige kauert; ein halbes Dutzend kräftiger Fäuste reißt ihn vom Boden; so[406] schleppen sie ihn zum Director, der, als sie herankommen, von seinem harten Lager sich emporrichtet. Der Schein der nächsten Laterne fällt voll in sein bleiches, von dunkelm Bart und Haar umschattetes Angesicht. Ein glückliches Lächeln spielt um seinen Mund, und seine großen Augen glänzen in einem wunderbaren Licht.

»Ich danke Euch,« sagt er, »ich danke Euch! Die Stunden, die Eure Gutheit mir vielleicht noch einbringt – sie sollen Euch gewidmet sein. Und nun noch eins, Kinder! Der Mann hier bin ich selbst. Was Ihr ihm thut, thut Ihr mir!«

Der Mann ist vor ihm in die Kniee gesunken, er legt ihm segnend die Hand auf den buschigen Kopf; wir wenden uns zur Thür. Ich werfe noch einen Blick zurück: von den Leuten hat sich noch keiner von der Stelle bewegt; Aller Augen sind noch starr auf den Herrlichen gerichtet, der, auf meinen Arm gestützt, eben den Saal verläßt. Aber ich zweifle, daß Alle ihn noch sehen, denn in mehr als einem dieser Augenpaare glänzen die hellen Thränen.

Quelle:
Friedrich Spielhagen: Sämtliche Werke. Band 1, Leipzig 1874, S. 398-407.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Hammer und Amboß
Hammer Und Amboss; Roman. Aus Hans Wachenhusen's Hausfreund, XII (1869 ) (Paperback)(English / German) - Common
Friedrich Spielhagen's sämtliche Werke: Band X. Hammer und Amboss, Teil 2
Hammer Und Amboss; Roman in 5 Banden Von Friedrich Spielhagen
Hammer Und Amboss: Roman... Volume 2
Hammer & Amboss (German Edition)

Buchempfehlung

Lewald, Fanny

Jenny

Jenny

1843 gelingt Fanny Lewald mit einem der ersten Frauenromane in deutscher Sprache der literarische Durchbruch. Die autobiografisch inspirierte Titelfigur Jenny Meier entscheidet sich im Spannungsfeld zwischen Liebe und religiöser Orthodoxie zunächst gegen die Liebe, um später tragisch eines besseren belehrt zu werden.

220 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon