Achtes Kapitel.

[184] Wenn auch kein Balsam mehr des Leibes Wunden heilen mag, so nehmt von der Zunge des Scheidenden die Schuld, und legt darauf den süßen Balsam der Vergebung, daß er fröhlich hinscheide.

W ...


So wie der Haufe des neugierigen Pöbels vor dem Hause der deutschen Herren stand und die geschlossene Thüre angaffte, sammt den Söldnern des Raths, die vor der derselben auf der Lauerwache standen, also auch die Menge des Volkes vor dem Klosterthore der weißen Frauen, nachdem man Wallraden hineingetragen hatte, blutig und entstellt, eine erbarmenswerthe Leiche. Wie ein Blitz hatte die Schreckenskunde die Stadt durchflogen, und nicht zuletzt Diethers Haus erreicht. Der Altbürger war abwesend, und Margarethe, – allen Groll vergessend, nur der Stimme des Mitleides und weiblicher Milde Gehör gebend, die in ihrem Herzen laut wurde, flog auf den Flügeln, der Angst und des Schreckens[184] nach dem Kloster, um wo möglich Wallraden vor ihrem Hintritt noch zu sehen, ihr den Tod leichter zu machen durch die Versöhnung. Die Zelle, die Wallrade als Gast des Klosters bewohnte, war gedrängt voll von Menschen. Um das von Blut geröthete Lager standen dienende Frauen des Klosters, ... Gundel kniete zu Haupten des Bettes und flehte zum Himmel, daß er ihr nicht den Tod der Gebieterin anrechnen möge; zu den Füßen des Bettes lag Willhild auf ihren Knien, und betete, ohne aufzuhören, oder ihren Lippen einen Stillstand zu gönnen. Die Oberin des Klosters, die stolze Walburg, die innige Freundin Wallradens, war beschäftigt mit ihren kunsterfahrnen Händen und Augen die Wunde der Bewußtlosen zu untersuchen, und Judith, die Magd half ihr bei diesem mühsamen Geschäfte. In der Ecke aber stand Dagobert mit blassem Angesichte, die kleine Agnes noch auf dem Arme, und im Auge den trostlosen Anblick einer sterbenden Schwester, gegen welche er jeden Zorn verschwunden fühlte. Ihr Leiden hatte ihn entwaffnet, und dankbar schier reichte er Margarethen die Hand, da sie zu ihm trat. »Gott vergelte Euch den guten Herzenswillen, ehrsame Frau;« sprach er: »Ihr verschmäht es nicht, einer in den Staub gefallenen Euch zu nahen, und zum Frieden zu reden, wie mir's Euer himmelklares. Angesicht sagt; – eine deutliche Schrift. Ich fürchte jedoch, – Ihr kommt zu spät. Dennoch aber,« setzte er leiser, hinzu, auf Willhild deutend: – »dennoch früh genug, um diese hier zu sehen.« – Margarethe erbleichte jählings, da sie das gefürchtete Weib ersah,[185] und näherte sich demselben. Mit gepreßter kaum vernehmbarer Stimme fragte sie die Hochaufschauende, wie sie daher gekommen, und welcher Endzweck sie zu Wallraden geführt habe. – »O liebe Frau,« entgegnete Willhild: »Ich habe gelernt, wie nichts besser sey, denn Wahrheit. Konnte diejenige, die dort verscheidet, mir die Wahrheit abschwatzen mit Trug und List, warum sollte ich sie nicht öffentlich bekennen? Erschrocken, daß ich Eurer Stieftochter, in Krankheitsangst und von meinem blödsinnigen Manne versucht, entdeckt, was ich nicht entdecken sollte, fürchtete ich Euren Anblick, und da mein Paul wieder heim kam, und mir glaublich wurde, daß er Euern Gemahl selbst gesprochen, daß dieser um Alles wußte, und fürchterlich strafen würde, da ward ich plötzlich gesund von dem Gebreste. Die Angst hatte mich geheilt, und mein Herz sehnte sich nach dem Compostell, um dort Vergebung meiner Sünde zu holen. Aber aus einem Kloster auf der Gränze von Elsaß sandte man mich zurück. Der Prior versagte um jeden Beistand zur weitern Pilgerfahrt, wenn ich nicht heimkehren, selbst Alles reuig bekennen würde, und Vergebung erhielte. Meinen Mann zurücklassend eilte ich zurück auf wunden Sohlen, und gelangte heute hieher. Wie hätte ich ohne Schutz vor Euer Antlitz treten können, vor Euch, die ich verrathen? – Eine Fürsprecherin glaubte ich in dem Fräulein zu finden, was ein bedauernswerther Zufall mir in den Gassen der Stadt begegnen ließ. Wallraden's Freude über mein Erscheinen war ausserordentlich. ›So mögen sie denn Alle mich Lügen strafen!‹ sagte sie recht[186] hämisch: ›Ich habe hier den besten Zeugen gefunden, und aus dem Hause soll mir die Frau und der Bube. Kommt mit, Wilhild. Seyd herzhaft und dreist, und Euer Schade soll's nicht seyn.‹ – Nun merkte ich wohl, daß ich vor die unrechte Schmiede gerathen war, allein hier half keine Widerrede. Angstvoll der Dinge wartend, die da kommen würden, folgte ich Eurer Stieftochter, als mit einemmale das Unglück in dem wahnsinnigen Mönche einherraste.« – »Und was gedenkst Du jetzt zu thun?« fragte Margarethe forschend. – »Ich muß Herrn Diether Alles bekennen, ehrsame Frau;« versetzte Wilhild: »Sie sprechen mich sonst nicht los zu Compostell. Aber Euch, die ich so sehr getäuscht, will ich überlassen, wann es geschehen soll.« – Dagobert winkte Margarethen zu, und sie verstand den gutgemeinten Wink. – »Ich rufe Dich;« sagte sie zu Wilhild, die sich sofort wieder zum Beten anschickte, und ging an das Bette der unglücklichen Wallrade. »Gesegnet sey der Herr,« sprach so eben Walburga: »noch lebt die Ärmste, und heilbar scheint mir die schwere Wunde.« Alles drängte sich dem Lager näher, um zu sehen, wie stufenweise das Leben wieder in die Glieder der Verwundeten trat, um zu hören, wie endlich der erste Seufzer ihren Lippen entschwebte, und das erste Wort aus ihrem Munde ging, dem alsdann wieder der erste Blick folgte. Doch das Auge Wallradens schloß sich wie geblendet vor den Zügen Margarethens, und die Schaam jagte eine flüchtig vergehende Röthe, auf die todtenfarbigen Wangen des Fräuleins. – »Warum nicht todt?« stammelte ihr Mund:[187] »warum gerade diese vor meinen Augen?« – Die Oberin, um das Gemüth ihrer Freundin, und einen schmerzlichen Auftritt zwischen ihr und ihren Angehörigen, nicht der Neugierde und dem Tadel fremder Augen bloßzustellen, entfernte die Frauen des Klosters. Unter ihnen, oder vielmehr nach ihnen entfernte sich auch Judith, die sich erinnerte, daß sie über dem gräulichen Mordschauspiele vergessen hatte, der armen Frau, die im Kloster eingesperrt war und gehalten wurde, wie eine Wahnsinnige, ihre Kost zu bringen. Das Versäumte eilte die Mitleidige nachzuholen, ließ sich von der Küchenmeisterin Speisen und Schlüssel geben, und trat zu der abgehärmten Frau in die dürftige, enge und wohlverwahrte Clause. – »Seyd nicht böse,« redete sie so sanft als möglich, und versuchte ihre unschönen Züge durch Freundlichkeit gefälliger zu machen: »seyd nicht böse, liebe Frau Katharine. Ich bin ein unwürdig, vergeßlich Ding, das allenthalben seine Hände bieten möchte, und dabei immer Einem oder dem Andern ein Leid thut. Mir thut es herzlich weh, daß Ihr gehungert habt um meinetwillen. Vergebt mir.« – »Ach, was bist Du eine gute treue Magd;« erwiederte Katharina wehmüthig freundlich, richtete sich aber nicht empor, aus der nachdenkenden Stellung, in welcher sie von Judith gefunden worden: »Habe Dank! beruhige Dich jedoch. Mich hungert nicht, ... denn wie sollte ich in meinem Elend mich erinnern, daß ich ein Weib bin, daß noch fürder zu leben gedenkt? Sage mir, liebe, gute Judith, ob noch keine Frau nach mir gefragt hat, ... ob noch kein Kind[188] gebracht worden ist, das ich umarmen soll?« – Judith verneinte, bekümmert lächelnd, denn sie meinte, die Frau spräche wieder im Wahnsinn. – »Das ist doch recht traurig,« sprach Katharine weiter, und das Haupt ließ sie in ihre Hand sinken, wie die hellen Thränen aus den Augen: »Sieh, Judith, sieh, das wird mich wahnsinnig machen, wenn ich's nicht schon bin. – Und sie hatte mir's so heilig versprochen und gelobt!« setzte sie, vor sich hinredend hinzu: »und sie bleibt aus, mit meinem Kinde.« – »Esset doch, gute Frau!« ermahnte Judith: »Es segne der Herr Eures Körpers Gedeihen, und zugleich das Licht Eures Haupts.« – »Laß mich doch;« versetzte Katharine schwermüthig: »Glaubst denn Du auch, daß ich thöricht im Gehirn bin? O laß doch die Leute reden. Leider habe ich meinen Verstand, und wenn ich ihnen nur sagen dürfte, wer ich bin, und wie ich mich nenne, und wenn meine Freundin käme und sähe, wie man hier mit mir verfährt, grausam, wie mit einem wilden Thiere ... dann sollte Alles anders werden. Aber wo wird sie seyn, die Zeit? wo sind sie, meine Lieben?« – »Wehrt doch Euern Thränen, Frau,« ermahnte Judith dringender: »Das Wasser des Auges hilft nie von dem, was das Auge gesehen, noch zu dem, was es verloren hat.«

»Verloren?« fragte Katharina schnell: »Verloren? Wahrlich, wahrlich, Du hast Recht. Hin ist hin, verloren ist verloren, und nimmer, – ach nimmer kehrt das Verlorne wieder. Glaube mir doch ja,« setzte sie langsamer und schwermüthig hinzu: »Glaube doch ja, daß ich nicht wahnsinnig bin, und sage es[189] der hochwürdigen Frau Walburg; ich könnte aber verwirrt im Haupte werden, wenn man mich fürder zwingen möchte, mit meinem Schmerz und meiner ungewissen Angst allein zu seyn. Erzählt mir aber jetzt, meine gute Magd, wie es kam, daß Du heute so lange weggeblieben?« – Judith erzählte, was vorgefallen war, aber mit vieler Vorsicht, um das Gemüth der Seelenkranken nicht allzuheftig zu erschüttern. Gleichgültig fast fragte endlich Katharina nach dem Namen der zum Tode Verwundeten, und Judith glaubte ihr nicht verheelen zu müssen. Nun war es aber gerade, als ob alle Flammen der Leidenschaft aus der schwermütigen Frau von der Rhön schlügen, denn sie fuhr auf, daß selbst die herzhafte Judith erschrecken mußte. »Wallrade!« rief sie: »Wallrade? o bittre, allzubittre Täuschung! Sie hat in diesen Mauern gelebt, und ließ mich im Kerker? .... Auf ihren Befehl liege ich also hier im Ketten? O, der Gräuelstunden meines Lebens schrecklichste komme über ihr Haupt! Doch nein, nein ....« eitzte sie gemäßigter hinzu: »hat sie denn Gottes Gericht nicht schon getroffen? Liegt sie nicht darnieder, wie ein abgerissener Zweig! Fluche ihr nicht Katharine, aber fluche auch deinem Gatten nicht, dessen Leummuth die Schlange gewiß nur vergiftet hat, um meine Ruhe zu morden!« – »Ach, welche Erinnerung thut sich mir auf beim Angedenken meines Gatten! Judith! Judith! denke Dir den Jammer einer Mutter! Hat gleich das schwere Schicksal und Dein eigner starrer Wille Dich bestimmt, nie die Mutterfreuden zu genießen, so bist Du doch ein Weib; Du[190] ahnest doch Leiden und Wonne des Weibes; hilf mir darum heraus, heraus aus diesem Kerker, – hinaus zu der Sterbenden, .... denn ich muß mit ihr reden, .... ich muß sie sehen ....« – »Gute Frau,« – entgegnete Judith, welche noch immer auf dem Glauben an Katharinens Wahnsinn beharrte, und in ihrem Schmerz nur einen heftigen Anfall der Krankheit sah: »Faßt und mäßigt Euch, .... ich vermag nicht, was Ihr begehrt, und zudem ist es leider gewiß schon zu spät. Wallrade lebt gewiß nicht mehr.« – »Barmherziger Gott!« kreischte Katharina gräßlich auf: »Sie lebte nicht mehr? Was sagst Du, Unselige? Das kann nicht seyn! Sie darf nicht todt seyn, .... sie kann nicht sterben! Sie muß mir ja sagen, wo mein Kind hingekommen ist .... ich bin ja Agnesens Mutter, .... sie darf mir ja nicht verhelen ... O um Gotteswillen, Judith! Judith! laß mich fort an ihr Sterbelager.« – Judith suchte in dem Vorrath ihrer Bibelsprüche vergebens Einen, der als Talisman gedient hätte, die gegen jeden fernern Zwang rüstig Aufstrebende zurückzuhalten, ..., die Gewalt ihrer Hände gegen die Unglückliche zu gebrauchen, weigerte sich ihr Mitleid, welches die Möglichkeit, daß hier nicht Wahnsinn sowohl, als endloses Leid die Sprache führen möge, gar wohl ahnte. Sie war daher auf dem Punkte, dem ihr auferlegten Gebote zum Trotz, die als thöricht Eingesperrte dahin zu lassen, wohin ihrer ganzen Seele Sehnsucht strebte, als Walburg's Eintritt sie aus der Verlegenheit riß. Das Gesicht der strengen, unerbittlichen Oberin war finster und trug die Spuren einer unangenehmen[191] Beweg. Sie trat langsam vor Katharinen hin, betrachtete die in Schmerz Vergehende, welche, aus Furcht verstummend, umsonst nach Worten suchte, der Nonne zu sagen, was sie der Magd gesagt hatte, und schüttelte ernst das Haupt. – »Ich bin arg hintergangen worden;« sagte sie alsdann, – »oder aus der Verwundeten spricht die Glut des Fiebers. Wahr soll es seyn, daß Ihr Eure Vernunft besitzt: daß Ihr nicht wahnwitzig geworden über den Tod eines Kindes ....?« – »Mein Kind lebt!« fiel Katharine ein: ›hochwürdige Frau‹! um Gotteswillen, mein Kind lebt; sagt mir nicht anders. Ich will Euch ja von Herzen vergeben, was Ihr Böses an mir gethan. Ihr wart hintergangen, – Ihr seyd ein schwacher Mensch gleich mir; der Satan hatte Euch umstrickt; .... aber damit ich Euch verzeihe, sagt mir nur nicht, daß mein Kind todt ist. Sie wird es doch nicht gemordet haben, – die Abscheuliche? Sagt nicht. – ›Ja‹ würdige Frau. Des Kindes Vater hat sie ins Elend getrieben; ... sie wird doch nicht das Töchterlein erwürgt haben? – »Nein, nein, ehrsame Frau;« antwortete Walburg zuversichtlich: »Dieses Kind lebt; ich will es Euch zeigen sogar, in Eure Arme es legen, denn diese Mutterangst ist nicht Tollheit, und ich fürchte, ich habe mich sehr versündigt an Euch. Kommt mit mir, arme Frau, und bringt ein versöhnlich Herz zu der Todtkranken, damit sie nicht auf ihren Sünden hinab, sondern auf ihrer Reue zum Himmel steige.« – Ohne ein Wort zu erwiedern, behende wie die Löwin, die, zur Höhle kehrend, ihre Jungen nicht mehr findet,[192] und hinausstürmt, um ihre Spur zu entdecken, folgte Catharine der Oberin, und Judith murmelte hinter ihnen her: »O ja, ihr Menschenkinder. Thut Buße, und übt Reue, denn Ihr wißt nicht, wann die Zeit da ist, weil Ihr nicht glaubt an Wunder, Zeichen und Ahnung. Ließe ich mir nicht die Hand abhauen, wenn ich meinem Vater, meiner Mutter einen tod hätte bereiten können, wie ihn hier die Verbrecherin stirbt, im Schooß der Reue? Eitle Wünsche! Barmherzig ist der Herr und er kann Alles thun, was er begehrt, weil auf seinen Fingern einst die Ruhe, und strafe ihren Mörder nach Verdienst. Wenn jemals die Bitten einer Tochter Eingang fanden zu seinem Ohre, so wird, so muß dieses Gebet erfüllt werden. Amen!« –

Mit versöhnlichem Herzen, und mit dem aufrichtigsten Willen, zu vergeben, betrat Catharina an Walburg's Hand Wallradens Zelle, aber nur einen schmerzlichen Blick warf sie auf die Todbleiche, die so eben von Margarethen und Willhild aus einer Ohnmacht geweckt wurde, – und zu stürzte sie auf die kleine Agnese, die von Dagoberts Armen ihr entgegenlächelte und jauchzte. Die treue, im Entzücken versunkene Mutter hatte keinen andern Gedanken von da an, als ihr Kind, kauerte sich mit demselben in einen Winkel, koste mit ihm, herzte es, machte tausend Fragen an seinen geschwätzigen Mund, und vergaß Alles um sich her. Wallraden, die wieder zu sich gekommen war, that es wohl, von der Mißhandelten nicht angeredet zu werden, und sie fuhr in der[193] offenen Beichte fort, die sie schon früher gegen Margarethen begonnen hatte, – von der kurzen Bewußtlosigkeit unterbrochen. »Es ist hart«, lispelte sie, »daß ich um mich nur Menschen sehen kann, denen ich weh gethan, die ich hinterging. Das Schwert des Mörders hat der Reue eine fürchterliche Bahn in meinem Busen gemacht, und nur Eure Gegenwart, Margarethe, ... Eure Milde ist Arznei für mich. Die ich am meisten haßte stehen bei mir, ... die Andern verließen mich. Laßt mich endigen, Stiefmutter; laßt mich Eurer freundlichen Sorge das Kind empfehlen, das von mir ausgestossen wurde, und alles Unheil in Euer Haus und über Andere brachte, ... der unschuldige Knabe. Ich hatte nie ein Mutterrherz: ich habe nie das Kind geliebt, dessen Vater ich haßte. Ich überließ dem, der mich verlassen, den Knaben nicht, damit er keine Freude an ihm erleben sollte; ich mißhandelte den Buben, weil ich in ihm des Vater Ebenbild zu demüthigen glaubte: ich stieß ihn hinaus in die Welt, weil mir endlich sein Anblick unterträglich wurde, da sich in seinem Gesichte, durch Zufall oder geheimen Zusammenhang der Blutsfreundschaft, die Züge des verabscheuten Bruders entwickelten. Gundel und Rüdiger waren Zeugen meiner Thaten, und der unverfälschlichste ist der Knabe selbst, denn Er ist Euer kleiner Johannes.« – Staunend schlug Margarethe die Hände zusammen, und versank in düstres Nachdenken. – »Laßt ihm nicht entgelten, was seine Mutter verbrach, ...« flehte Wallrade: »Stoßt ihn nicht von Euch, wie ich gethan; .... Dagobert, ... sey Du des[194] Knaben Schirm. Ach, der Vater wird ihn ja nicht ganz verlassen, denn er hat mich Unwürdige ja einst geliebt, obschon sein Zorn ihm jetzo nicht erlaubt an meinem Todtenbette zu stehen. Dagobert! Sorge Du für den kleinen Hans! Versprich es mir!« – »Ich gelobe,« antwortete Dagobert, Wallradens Hand fassend, – »des Knaben Freund und treuer Ohm zu seyn; ihn nimmer zu verlassen, und zu halten wie einen Sohn.« – »Das erheitert mein schrecklich Ende;« flüsterte Wallrade; dann setzte sie mit erhabener Stimme hinzu: »O meine Lieben und Freunde: könnte ich Euch doch eine Hoffnung zurücklassen zum Ersatz für all das Böse, das ich Euch in Wirklichkeit gethan. Vergebens werdet Ihr das Kreuz auf dem Grabe Eures Söhnleins suchen. Willhild's Angst vor der gerechten Strafe ihrer Unvorsichtigkeit wälzte eine Schuld auf sie, die alles Andre nach sich zog. Johannes starb nicht bei ihr.« – »Nicht?« rief Margarethe heftige aus, und beugte sich tiefer zu Wallradens Lippen. »Hab' ich auch recht vernommen? Johannes starb nicht? Um Gotteswillen! Willhild; was soll das bedeuten?« – Willhild drückte furchtsam und schuchzend das Antlitz in die Kissen des Lagers; Wallrade versuchte vergebens zu sprechen; Dagobert jedoch ergänzte mit vorsichtiger Kürze das Mangelnde. »Rüdiger, der Knecht,« sprach er, »hat mir im Sterben gestanden, was er dem Manne Willhildens, dem halb blödsinnigen Paul entlockt hatte: Der Knabe kränkelte sehr, und war nahe dem Versiechen, da rief eines Tages ein nothwendig Feldgeschäft Willhild und Paul zur Bestellung ausserhalb[195] der Hütte. Das seltne freundliche Spätherbstwetter, bewog die Pfleger, den ihnen anvertrauten Sohn nicht in der Hütte einzusperren, wie sie sonst wohl gethan, wenn sein überhandnehmendes Gebreste es verhinderte, ihn mit auf's Feld zu nehmen. Sie ließen dem Buben Wies und Gärtlein frei, und da sie von der einsamen Wohnung gingen, hatte sich das kranke Kind in den Sonnenschein auf eine kleine Bank gelagert, die am Gehege stand, und war eingeschlummert vor Schwäche. Die Leute blieben stehen vor dem Knaben, und ihnen war, als sollten sie nicht von dannen gehen, und das Herz wurde ihnen weich beim Anblick des abgemagerten Gesichts und Körperleins. Sie trauten sich jedoch nicht, den Kleinen zu wecken, breiteten noch ein Tüchlein über sein Antlitz, und begaben sich hinweg. Da sie aber wieder zurückkehrten, war der Bube nicht mehr da, und nicht in Haus und Hof, nicht auf Wies und Feld zu finden, und bis auf den heutigen Tag nirgends eine Spur von ihm anzutreffen gewesen.« – Dagobert schwieg, und der Schmerz der Mutter nahm nun das Wort: »O, wie erneuert diese Erzählung blutende Wunden!« klagte sie: »Wie doppelt fühle ich jetzt den Gram um meinen Einziggebornen! Bis jetzt glaubte ich ihn in kühle Erde versenkt, im geweihten, christlichen Grabe, und jetzt erst muß ich befürchten, daß ihn ein wildes Thier hinweggetragen, das herabgekommen ist von des Haynreichs waldigem Rücken1. Seine Gebeine sind ein Spott der Vögel[196] geworden, und düngen den Boden des Forstes! Willhild! Willhild! Was hast du auf dem Gewissen, Unglückliche? Und ist Alles wahr, was ich vernommen?«

Willhild vermochte nur, stumm den Kopf zu neigen, und brach in lautes Weinen aus. Wallrade winkte ebenfalls bekräftigend, und faltete die Hände, wie um Vergebung für die reuevolle Pflegerin zu bitten. – »Das hat lange auf meiner Brust gelastet,« begann Dagobert; »und ich konnte mich nicht überwinden, es zu entdecken, aber das Unglück schenkt dem Menschen nichts. Faßt Euch daher, gute Mutter, und setzt Eure Zuversicht auf Gott, wie Ihr auf diese arme Frau keinen Groll werft, sondern die Liebe des Gerechten, das Mitleid Eurer Seele.« – »Dann sterbe ich leichter,« sprach Wallrade, die wieder zu Kräften gekommen war: »ruhiger, unter Verzeihenden eine Vergebende, denn ich nehme alle Schuld von meinem Mörder, dem unglücklichen von der Rhön.« –

»Von der Rhön?« fragte Catharina, aus ihrem zärtlichen Kosen mit dem Kind aufschreckend: »Was ist mit ihm? Wallrade, ich beschwöre Euch bei der Barmherzigkeit Gottes, ... bei Eurem Seelenheil, ... wo ist der dessen Namen Ihr nanntet? Auch dieses lallende Kind nannte ihn .... was soll ich glauben, was werde ich hören? Redet, ... nur ein Wort, mein Fräulein, wo ist mein Gatte, ... was geschah mit ihm?« – Wallrade schlug die Augen gen Himmel, blickte dann fragend nach der Äbtissin, im Begriff zu reden. Walburg raunte jedoch befehlend in[197] das Ohr der Verwundeten: »Schweigt, .... laßt mich der Schwerbedrängten antworten, damit die Kunde von der Wahrheit sie nicht tödte aus unsrer Mitte. – Euer Gatte lebt:« sprach sie hierauf zu der gespannten Zuhörerin: »Noch mehr; Ihr werdet ihn sehen; macht euch gefaßt, ihn im Schooße des Glücks zu finden, ...« – »Des Glücks?« fragte Catharine rasch entgegen: »Hochwürdige Frau, ... wie konnte Bilger glücklich seyn, ohne die, die ihn lieben? Ach, möchte er in Armuth und Dürftigkeit darniederliegen ... mein Anblick, der Anblick seines Kindes wird ihm willkommen seyn. Ich will ihn pflegen, ich will sein Leben erleichtern. Gott! Alles will ich thun, Alles leiden, Hunger und Pein mit ihm leiden, wenn ich ihr nun sehen, in seiner Nähe seyn kann, denn so wie ich liebt ihn keine Andere, so hat ihn jene sicher nicht geliebt, der er gehuldigt, bevor er mir die Treue gelobte.« – Wallrade zuckte schmerzhaft zusammen. Walburg versetzte; »Über die Vergangenheit, gute Frau, laßt uns einen Schleier werfen, und uns freuen, daß auch die Zukunft hinter einem Schleier liegt. Verlaßt Euch indessen darauf: Euern Gatten sollt Ihr sehen. Vielleicht schon morgen, vielleicht noch heute Abend. Bleibt aber ruhig jetzt, und geht auf Eure Zelle mit Eurem Kinde. Ihr sollt wohl gehalten seyn; denn ich will mein Unrecht gut machen; betet aber dafür ein Vaterunser und ein Stoßgebet für diese im Todeskampfe Leidende!« – Dagobert glaubte, indem er einen Blick auf der Schwester Antlitz warf, daß sie schon verschieden sey, doch Margarethens Ohr hörte das[198] fast unmerkbare Athmen ihrer wunden Brust, und winkte Allen stille zu seyn. Dieser Schlummer, der die Arme befallen, schien derjenige, der oft dem allerletzten Schlummer, in welchem der Odem erlischt, vorausgeht. Katharina entfernte sich mit ihrer kleinen Agnes um in der Hoffnung des Wiedersehens zu schwelgen, Walburg betete bei dem Lager der Freundin. Dagobert saß neben ihr, wie ein treuer Wächter. Margarethe, nachdem sie eine kleine Weile überlegt, flüsterte zu Dagobert: »Bleibt Ihr, mein guter Sohn; ich kann sie nicht verscheiden sehen. Ich gehe, meine längst versäumte Pflicht zu erfüllen, und vor Diethers Augen die Wahrheit zu enthüllen. Weh mir, daß meine Schwäche, mein Wankelmuth bis jetzt das Geständniß verzögerte: bis jetzt, wo es ein entsetzliches Verhängniß aus meinem Busen reißt. Indessen einmal besser als nie. Komm, Willhild, komm, von diesem Sterbelager müssen wir rein gehen, und nur zu den Füßen meines Herrn ist jetzt unsre Stelle.« – »Gott segne Euern Weg;« erwiederte Dagobert mit freudeleuchtenden Augen: »Es wird hell in unserm Hause werden, und nur zu beklagen ist's, daß hier Nacht werden muß, damit es dort tage. Geht mit Zuversicht und Muth; ich fürchte, ich werde auch bald folgen können.« – Er warf einen besorglichen Blick auf die schwerathmende Schwester. Margarethe zerdruckte eine Thräne im Auge, und schlug ein großes Kreuz über die Leidende. Willhild, die sich mit einem Seufzer von der Erde erhob, besprengte Wallradens Lager mit einigen Tropfen Weihwasser, und wankte der schnell davonschreitenden[199] Altbürgerin nach. So still ihr Gang durch die Straßen war, so still war ihr Empfang zu Hause. Herr Diether bemerkte kaum, in sein Leid versunken, die Eintretenden. Gleichgültig sah er auf Willhilds bebende Gestalt, aber mit erzwungner Ruhe fragte er Margarethen: »Ihr kommt von ihr? Sie ist hinüber?« – Die Gattin schüttelte den Kopf, und sagte mit geheimer Angst, wie sie denn wohl das harte Bekenntniß einleiten möchte: »Sie lebt noch, mein werther Herr, und sie hoffte, Euch an ihrem Bette zu sehen, als ein versöhnter Vater.« – »Zerreißt mir ihr Tod nicht das Herz?« fragte Diether mit ausbrechender heftiger Wehmuth: »Ist sie denn nicht meine Tochter? Ich bin kein Thier des Waldes, das sich die Gebeine seiner Jungen selbst zur Nahrung wählt; ich bin ein Mensch, ein alter Mann von rauhen Sitten, aber meine Brust ist nicht fühllos. Bei meinem scheidenden Kinde zu weilen, wäre mir eine heilige Pflicht, könnte ich mit ganz reinen, ungemischten Gefühlen die Tochter wiedersehen. Aber, mit dem Mitleid würde der Groll kämpfen, mit der Versöhnung der Haß, mit dem Segen der Fluch, und besser ist's, ich bleibe weg von ihr, als daß mir in ihrem letzten Stündlein, wieder in ihrer Nähe beikäme, was sie gegen mich, gegen uns verbrochen hat.«

Margarethe wollte in seine Rede fallen, aber Diether gab es nicht zu. – »Kein Wort zu ihrer Vertheidigung,« sprach er heftig: »verzeihen kann ich ihr, segnen will ich sie, aber nicht selbst ihr das Wort der Vergebung bringen, aber nicht selbst die Hand auf ihr Haupt legen, aber nicht vergessen daß sie es war,[200] die alles Elend über uns gebracht, daß sie das Kind uns gestohlen, um es dem Jammer hinzuwerfen, wie ein armes junges blindes Thier in den reißenden Strom!« – »O Herr,« rief Margarethem seine Knie umfassend: »hemmt doch Euern Zorn, hemmt doch Eueren Groll. Wallrade hat viel verbrochen, aber unschuldig ist sie an diesem Vergehen.« – »Unschuldig?« wiederholte Diether, und sah mit Bestürzung, wie auch Willhild sich heulend vor ihm niederwarf, und nun aus dem Munde der Frauen ein Bekenntniß zu Tage stieß, das sich der alte Mann nicht hätte träumen lassen. Und da er nach und nach heller sah in der verworrenen Geschichte, hörte, wie er hintergangen, und wie diese schnöde List der Anfang alles Unglücks seines Hauses gewesen, da empörte sich sein Gemüth; das Blut wallte siedend uaf in seiner Brust und seinem Gehirn. Der gewohnte Ungestüm wollte hervorbrechen aus den kaum geschmiedeten Fesseln, verstoßen wollte er die schuldige Gattin, der strengsten Strafe überliefern ihre Mithelferin; aber ein Augenblick gestaltete sein Inneres anders. Margarethe, in ihrer Reue schöner noch, als an dem Tage, da sie in Diether's Hause einzog, – eine siegreiche Braut, – sah auf zu ihm aus der Vernichtung, in welcher sie vor ihm lag. Alle Engel des Erbarmens schienen um sie her im Kreise auf den Knieen zu liegen vor dem zürnenden Greise, ihre Hände gegen ihn zu falten, und seiner stürmischen Seele Friede zuzufächeln mit ihren bunten und goldnen Schwingen. Der Zauber, der über des Kindes[201] wie über des Alten veränderlich Gemüth eine strenge Herrschaft übt, wirkte auch hier. Gegen die entwaffnete Buße hatte er nur Rührung zu stellen, wiederkehrende Liebe, und all diese Gefühle wurden geheiligt durch eine erhebende Ahnung der ewigen, unabänderlichen Vorsehung. So konnte es denn geschehen, daß sein Grimm plötzlich vernichtet dahin fiel, daß wehmüthige Freundlichkeit über seine Züge schlich, und daß die Hand, die vor einem Athemzuge noch, die vor ihm Knieende hinwegstoßen wollte, dieselbe jetzo aufhob, wie ein Vater das liebe Kind aufhebt. – »Steht auf, meine Ehefrau;« sprach er gütig, und siegreich im Kampfe der Leidenschaft: »Ihr habt mir so vieles zu vergeben, daß ich, obgleich schmerzlich aus der Himmelshoffnung meines Alters gerissen, nicht anders thun kann. Kein Wort mehr von dem, was gewesen ist.« – Er schüttelte Margarethen treuherzig die Hand, sie küßte die seine schluchzend und dankbar. Hierauf hob er auch Willhild auf, und sagte zu ihr, wenn gleich mit strengem Blicke: »Dich könnte ich fragen: Wo ist das Kind, das ich Dir vertraute? Aber, .... ich bezwinge mich. Der Herr hat's gegeben, – der Herr hat's genommen, – der Name des Herrn sey gelobt. Der arme kranke, todtschwache Knabe wird freilich von uns nie mehr gesehen werden, setzte er weich hinzu: und auch seine Überreste werden wir nicht finden. Das Haus bleibt aber darum doch nicht ohne Erben, und auch der kleine Hans soll nicht unglücklich seyn, um der Missethat seiner Mutter willen. Jetzt aber, kommt zu[202] eben dieser Mutter Sterbebette, daß ich jetzo sie mit heiterm Muthe segne, und ihr aus vollem Herzen das sühnende Lebewohl zurufe!«

Fußnoten

1 Haynreich – ein mittelalterlicher Name des Taunusgebirges.


Quelle:
Carl Spindler: Der Jude. 3 Bände, Band 3, Stuttgart 1827, S. 203.
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