Gerold und Gesima

[58] Hansli bestand auf einer geregelten Marschordnung. Es komme einem Mädchen nicht zu, urteilte er, in ebenbürtiger Frontlinie mit zwei uniformierten Kadetten zu ziehen, Gesima müsse zehn Schritte zurückbleiben. Sie erhob keinen Einspruch, fügte sich auch scheinbar seinem Ansinnen, allein so oft Hansli sich umwandte, um sich zu vergewissern, ob sie die Distanz auch richtig einhalte, dünkte ihn der Zwischenraum verringert. Das bestritt ihm Gesima lebhaft, worauf er die Kolonne halten ließ und den Abstand mit den Füßen nachmaß. »Siehst du, es sind nur acht Schritte.« Dann stellte er sie zurecht, kommandierte »Marsch«, und sofort fing der Streit von neuem an. Jetzt befahl er ihr, in der nämlichen Entfernung voranzuschreiten, um sie besser überwachen zu können. Wiederum gehorchte sie ohne Widerrede. Aber nun trippelte sie im Adagio molto quasi lento ritardando, was die Kadetten nötigte, ebenso langsam hinterdrein zu kriechen, denn sonst hätten sie ja ihrerseits die Distanz gebrochen. Nicht genug damit, stand sie alle Augenblicke stille, sei es, um an ihren Stiefelchen zu nesteln oder an ihrem Kleide zu bändeln, so daß die Kolonne langsamer vom Fleck kam als der Landsturm. »Gesima, ich gebe dir eine schlechte Note im Betragen«, schloß Hansli ärgerlich und ließ fortan den Marsch laufen, wie er mochte.

Trotzdem es noch früh am Morgen war, neun Uhr oder so etwas, stach die Sonne schon gewaltig heiß, und allmählich begann den Infanteristen seine Patrontasche zu belästigen; nicht daß sie ihm zu schwer gewesen wäre, aber das Bandulier drückte und erhitzte ihm die Schulter. Folglich zog er das lästige Zeug ab und hängte es Gesima über die Achsel. Die machte sich einfach[59] schmal, so daß sie durch das Bandulier schlüpfte wie ein Fischlein durch eine Masche, und die Patrontasche lag auf dem Boden. Dieser Vorgang wiederholte sich etliche Male. »Gesima«, drohte Hansli, »wenn du das Kunststück noch einmal aufführst, laß ich die Pulvertasche ganz gewiß liegen.« »Laß!« antwortete sie und beförderte das Anhängsel abermals zu Boden. Nun machte Hansli ein sorgloses Gesicht und zog weiter, als ob ihn das schwarze Gepäck nichts anginge, nur im Verstohlenen ab und zu nach hinten schielend. Bis ein Bauernbub den merkwürdigen Fund mit erstaunter Gebärde aufgriff, da rannte er mit heftigem Protestgeschrei zurück und riß ihm sein Eigentum aus den Fingern. Wie er aber dann das Mädchen neuerdings als Lasttier benützen wollte, verwehrte ihm das der Bruder mißlaunisch. Er könne seine Patrontasche selber tragen, bemerkte er barsch. Diesen herrischen Kommandoton von seiten eines gewöhnlichen Kanoniers verbat sich der Infanterist, ein gereizter Wortwechsel entstand, illustriert mit Vergleichen aus dem Tierbuche, keinen schmeichelhaften; dem Wortwechsel folgte nach dem Gesetz der Steigerung das Hohngelächter und schließlich die Beleidigung. »Mädchenfreund!« schrie Hansli und flüchtete in rasendem Galopp querfeldein, als liefe der Teufel hinter ihm, wütend verfolgt von dem Bruder, der ihm jedoch mit seiner Schwerfälligkeit bei weitem nicht nachkam. Von nun an war es Hansli, der Distanz hielt, nicht zehn Schritte, sondern hundert und zweihundert, zwar von Zeit zu Zeit um eine Ecke herum oder aus einem Busch hervor den beschimpfenden Zuruf wiederholend, aber furchtsam den Fuß zur jähen Weiterflucht gerüstet.

»Kümmern wir uns nicht um ihn, und lassen wir ihn laufen«, sprach Gerold großartig, nachdem er eingesehen, daß er ihn nicht einzuholen vermochte. – »Komm, dort geht ein Fußweg in den Wald, so sieht er uns nicht.«

»Aber wenn wir uns verirren?«

»Und wenn? oder hast du etwa Angst?«[60]

»Vor den schwarzen Waldameisen weniger als vor den kleinen roten.«

Und da er sich anheischig machte, sie vor jeder Gattung Ameisen zu behüten, sowohl vor den roten wie vor den schwarzen, folgte sie ihm in den Wald, durch ein Gebüschtor, dessen Zweige so tief auf den Boden hingen, daß man gebückt durch das Pförtchen schlüpfen mußte wie durch eine Höhle. Jenseits des Gebüschtores befanden sie sich, von der Welt wie durch einen Vorhang abgesperrt, in einer dunklen, kühlen Tannenhalle. Auf dem trockenen, weichen, tannennadelgepolsterten Boden federte der Schritt von selber empor, als ob von unten den Füßen mitgeholfen würde; keine Spur von Unterholz oder Efeu, höchstens ab und zu eine mächtige Wurzel hemmte den Wandel; und die Erde tönte dumpf und hohl. Das war so vergnüglich, daß sie den Fußweg verschmähten und lieber den einladenden rundlichen Mulden und Hügelchen des sanftgewellten Grundes folgten, die Tälchen mit kleinen Sprüngen, die Höcker im Anlauf gewinnend. Mit einem Male gewahrten sie, als sie eben wieder eine Anhöhe erobert hatten, unten zu ihren Füßen, mitten im Walde, einen majestätischen Fluß, der lautlos vorbeizog, zwar in schleunigem Strom, doch glatt, ohne kräuselnde Wellen; statt der Wellen wob die Flut glanzseidene Muster in die Wasseroberfläche.

»Die Aar«, erklärte Gesima wißbefriedigt. Das bestritt ihr Gerold. »Die Aar sei nicht hier, sondern bei Aarmünsterburg.«

»Das beweist nichts; sie kann ganz gut in Aarmünsterburg sein und doch hier.«

»Bitte, Gesima, schwatz keinen Unsinn. Nichts kann an zweien Orten zugleich sein.«

»Doch, ein Fluß kann das, weil er sich bewegt. Sonst müßte ja die Aar, wenn sie in Aarmünsterburg bleiben wollte, beständig über den eigenen Kopf hinaustanzen.« Gerold erstaunte und dachte gespannt nach. Schließlich mußte ers zugeben. »Gesima, du hast recht, du bist gescheit«, urteilte er.[61]

Man sieht nicht alle Tage eine Aar in einem Walde, es lohnte sich, die Merkwürdigkeit etwas länger zu betrachten. Darum setzten sie sich in die Nische einer Zwillingstanne und blickten, frei von Wünschen und Gedanken, geduldig auf den leisen, schnellen Fluß hinab, während über ihnen ein Specht mit weithinschallendem Ticktack die Stille betonte.

Gerold wurde anhaltend ernst und nachdenklich. Ob sie sich nicht ebenfalls entsinne, fragte er, lange vor diesem Leben, vor undenklichen Zeiten, schon einmal gelebt zu haben, und zwar in einer anderen als menschlichen Gestalt. Und als sie das bestimmt verneinte, gestand er ihr, er für seinen Teil erinnere sich, früher einmal ein Storch gewesen zu sein.

Ob es ihm denn nicht langweilig vorgekommen sei, fragte sie zurück, stundenlang auf einem Bein zu stehen, und ob er es nicht unappetitlich gefunden habe, ungekochte Schlangen und Eidechsen zu essen. Und es nehme sie wunder, wie er das Fliegen zustande gebracht habe, bei seinem Körpergewicht.

»Das wenigstens«, meinte er eifrig, »ist dir gewiß schon aufgefallen, daß man manches zweimal erlebt.«

»Nein, das ist mir nie aufgefallen; es wäre auch eine Kunst, denn es ist ja nicht einmal wahr.«

Hierauf verfiel er wieder ins Nachsinnen. Plötzlich blickte er sie fest an, mit überlegener Rätselmiene: »Was ist das Schwerste in der Welt?«

»Der Elefant«, riet sie hurtig.

»Nein.«

»Ein Heuwagen.«

»Nein. Sondern das Schwerste in der Welt ist, zu einem Menschen zu sagen: ›Es tut mir leid.‹«

»Durchaus nicht«, lachte sie, »das sage ich alle Tage zu Papa und Mama, wenn ich etwas Dummes pexiert habe.«

Da schaute er sie bewundernd an, als ob sie aus einem edleren Stoffe gemacht wäre, und schüttelte den Kopf.[62]

»Und was ist das Zweitschwerste in der Welt?«

»Mit seinem Bruder nicht zanken.«

»Das allerdings auch. Aber ich meine etwas anderes: Das Zweitschwerste in der Welt ist, jemand eine Verbeugung zu machen.«

»Bist du denn so steif?«

»Das nicht. Ich könnte schon, wenn ich wollte, aber ich will nicht. Weil ich ein Schweizer bin und ein Schweizer vor keinem Menschen den Nacken beugen soll.«

»Mein Papa ist auch ein Schweizer und macht dennoch Verbeugungen, sogar sehr schöne, wenn er eine Freundin von Mama im Zimmer sieht. – Da kannst du ja nie auf den Ball gehen und tanzen.«

»Doch, tanzen kann ich. Nur wenn es heißt ›Verbeugung‹, tue ich immer das Gegenteil und strecke mich bolzgerade in die Höhe.«

»Da kannst du jedenfalls sicher sein, daß ich nie mit dir tanze.«

»Das brauchst du auch nicht, wenn du nicht willst. Ich habe schon eine Tänzerin für die Tanzstunde; eigentlich mag ich sie nicht, aber sie hat nicht so viele häßliche rote Haare wie du. – Wart, bleib sitzen, ich will geschwind hinunter, ein paar Schiefersteinchen prellen.«

»Ist dirs nicht ebenfalls verboten, allein an die Aar zu gehen?«

»Nur von der Mama. Mein Papa ist selber beim Militär und begreift, daß Gefahr eine Ehre ist. Er tut zwar, als wäre er ungehalten, wenn wir etwas Waghalsiges unternehmen, aber es freut ihn heimlich doch; er lacht mit den Augen dazu. – Du aber rührst dich nicht! Gelt? ich kann mich darauf verlassen? Du versprichst es mir? Du weißt, ich habe die Verantwortlichkeit für dich.«

»Ich, wenn mir etwas verboten ist, so brauche ich keine Ermahnungen; ich tu es einfach nicht.«
[63]

Also lief er den Hügel hinab zur Aar. Dort streifte er auf der Suche nach einem Schützenplatz und glatten Steinchen der Strömung entlang hinter dem Weidensaum. Jetzt, so nahe am Ufer, war der Fluß nicht mehr stumm, sondern gab einen unheimlichen dröhnenden Metallruf von sich, immer den nämlichen.

»Geh nicht zu nah zum Wasser! und entferne dich nicht zu weit!« warnte Gesimas Ruf von oben.

»Ich kann sechs Züge schwimmen«, meldete er stolz zurück.

Ein tief in den Schatten getauchter schwarzer Waldgraben, wo der Strom in pfeilschnellen Wirbelringen vor einer Felswand umbog, zog ihn an; erstens wegen des fürchterlichen Anblicks, zweitens weil sich an dieser grausigen Stelle eine Halbinsel von Schiefergeschütt wie ein Dreieck weit in den Fluß vorschob, die Spitze des Dreiecks im Wasser; dort mußten sich geeignete Wurfgeschosse in Menge vorfinden. Langsam, Fuß vor Fuß setzend, wagte er sich auf dem Geschütt vor, bange und bebend, mit verhaltenem Atem und klopfendem Herzen, denn ihm war, als wollte ihn der reißende Wogenschuß von dreien Seiten zugleich angreifen, umwälzen und fortschwemmen; und das einförmige Dröhnen des Stromes hatte sich in ein heulendes Brausen verwandelt. Nachdem er ein glattes Scheiblein aufgelesen, pflanzte er sich in schräger Schützenstellung fest auf die Beingestelle und schickte es waagrecht über die Fläche. Ein-, zwei-, dreimal berührte der Stein streifend das Wasser, milchweiße Spritzer zischten empor, die von dem finstern Wasserrachen sofort verschluckt wurden; schnapp, wie von einem Krokodil. Doch Krokodile gibt es nicht in der Aar. Allerdings, wenn man abergläubisch wäre, könnte man meinen, dort in jener meergrünen Wirbelmühle glotzten zwei Krokodilaugen und dort von oben kämen mehrere hintereinander mit der Strömung geschwommen, tückisch unterm Spiegel verborgen, bewegungslos anreisend, sich tot stellend. Unsinn! – Ha! da segelte er mitsamt der Insel, worauf er stand, den Fluß hinunter, daß er schwindelnd mit den Armen nach einem[64] Halt fischte, während gleichzeitig eine ungeheure Riesenschlange, um die Waldecke schießend, ihn blitzschnell verfolgte. Lächerlichkeit! Augentäuschung! es schien nur so. – Aber wenn doch nur Gesima mit ihrem läppischen Geschrei aufhören wollte! sie verwirrt einem vollends den Kopf damit. »Stille schweigen!« herrschte er ihr zu. Solch eine Dummheit! Sie könnte einen schließlich noch anstecken mit ihrer einfältigen Angst.

Und bückte sich, um ein zweites Tellerchen auszuwählen. Da gewahrte er etwas auffällig Weißes im Geschiefer, ein ziemlich großes Blatt Papier, das an den vier Ecken mit Kieseln beschwert war; es lag kaum anderthalb Schritt von ihm entfernt, aber ganz nahe beim Wasser, so nahe, daß es fast vom Schaum bespült wurde. Neugierig schob er sich mit vorsichtigen Drehungen hinzu, behändigte mit einem raschen Griff glücklich den Fund und untersuchte ihn. Das Papier war beschrieben, zwar bloß mit Bleistift, aber leserlich. Er buchstabierte und las: »Hier stand ich vier Stunden. Der Mutter gedenkend kehrte ich um. Max, genannt ›der Narrenstudent.‹« Schnell kniete Gerold nieder, kramte seinen Bleistift aus der Tasche, stützte sich auf die Ellenbogen, und also, in vierfüßiger Stellung, den Geschüttboden als Schreibtisch benützend, kritzelte er hastig eine Nachschrift darunter: »Abscheulicher Mensch! den niemand gern hat, nicht einmal sein eigener Vater! Gerold.« Und die Urkunde beschwerte er seinerseits mit Steinen, gleichsam als einen Urteils-, Absage- und Fehdebrief.

Hernach gedachte er in seiner Schützenkunst fortzufahren. Allein nun war es auf einmal zuviel. Das unaufhörliche Heulen des brausenden Flusses, der haltlose Zug der reißenden Strömung, das schwindelhafte Kreiseln der Geschwindwirbel mit ihren Ungeheueraugen und schmatzenden Lippen, das verräterische Gebaren seines Standbodens, der jeden Augen blick Miene machte, plötzlich bachab zu reisen, hinterlistig, ohne Warnung und Vorzeichen, das alles, vereint gegen seinen Mut unablässig anstürmend,[65] ohne eine Sekunde Waffenstillstand, übermochte auf die Länge endlich seine Kraft, und jählings packte ihn das Grausen. »Fort aus dieser flüssigen Hölle!« schrie sein Herz. Noch gelang es seiner Tapferkeit, ehrenhalber ruhig nach dem rettenden Ufer zu schreiten, stolz, in aufrechter Haltung; kaum jedoch spürte er sich auf sicherem Erdboden, so rannte er in toller Flucht den Wald hinauf.

Dort sprang ihm die vor Angst weinende Gesima mit Vorwürfen entgegen, faßte ihn am Ärmel und zerrte ihn mit sich, irgendwohin, einerlei, nur weg von der gefährlichen Flut, fort aus dem unheimlichen Wald. Und beiden dünkte es, als ob das schillernde Stromungeheuer hinter ihnen die Anhöhe heraufgestiegen käme, um sie zu verfolgen, so daß sie anfingen, flüchtlings zu laufen. Bis von dem schauerlichen Singen des Wassers nicht mehr der leiseste Ton zu vernehmen war; da erst atmeten sie auf. Nun erzählte Gerold hastig von der Schrift des Narrenstudenten, die er im Geschütt aufgefunden. Gesima schnupfte wegwerfend: »Ein grausiger Mensch! ißt Froschschenkel und gekochte Schnecken! Wäre er nur ertrunken! Frau Balsiger mag ihn, ich nicht.«

»Ja, aber wie kommen wir denn eigentlich aus dem Wald?« Das lustige Klingeln eines Fuhrwerks wies ihnen die Richtung, und früher als sie gehofft hatten, mündeten sie wieder in den lichten Tag und das freundliche Leben.

»Aber mit dir gehe ich nie mehr von der Landstraße ab«, schmälte Gesima, »eher lasse ich mich von der Sonne rösten. Du magst mich dann meinetwegen als Krebspastetchen verspeisen«.


Es war ein förmliches Auftauen an Leib und Seele, das sie wollüstig überkam in dem heißen Sonnenfang der Landstraße, nach dem fröstelnden Schauder des finstern Stromgrabes, und der neuerwachende Mut heischte, als Antwort auf die erlittenen[66] Schrecknisse und Bangnisse, das Plaudern. Die jüngsterlebten Ferienwonnen schilderten sie einander; Gerold die Herrlichkeiten des ungebundenen Schweifens über die Triften, die Abenteuer in Wald und Feld, in Dorf und Stall, Gesima das stille Vergnügen in den kunstseligen Gemächern der Familie Balsiger, von den Bildsäulen im Treppenhause erzählend, von den Gemälden an den Wänden, von den Schränken voller Prachtbilderbücher, von dem Musikspiel nach dem Nachtessen, mit Frau Balsiger am Klavier, Herrn Balsiger am Geigenpult, und zuweilen komme auch der Pfarrer mit dem Cello.

Allein Gerold hörte längst nicht mehr zu; über ihrem gleichförmigen wohllautenden Kanarienvogelgezwitscher waren seine Gedanken unvermerkt nach den Wolken ausgewandert, und an ihrer Stelle erschienen allerhand flüchtige Träumereien, die sich allmählich zu einem einzigen Lieblingstraum verklärten, seinem Traum, den er beständig im Herzen hegte: Er sah sich als Anführer der sämtlichen schweizerischen Kadetten, in einer fürchterlichen Schlacht gegen die verbündeten Kadetten Europas kämpfend; die Kanonen donnerten, der Pulverrauch dampfte, daß einem vor Wonne Hören und Sehen verging. Schon war der Sieg entschieden, der Feind floh, sämtliche Kanonen im Stich lassend, siehe, da stürzte der Obergeneral der feindlichen Kadetten, ein engelschöner Knabe in weißer Uniform mit goldener Schärpe und goldgestickten Aufschlägen, verwundet vom Pferde. Er, rücksichtslos durch Freund und Feind sich Bahn brechend, stürmisch zu ihm hin, half ihm, sich aufrichten, tröstete ihn liebreich, nahm ihm sein Ehrenwort ab und versprach ihm Pflege und großmütige Behandlung. Und süß war der Dankesblick aus den blauen Augen des schönen Gefangenen.

Da stupfte ihn Gesima: »Was sinnierst du?« Errötend wachte er hernieder. Er solle ihr lieber von Aarmünsterburg erzählen, begehrte sie, als so langweilig stumm neben ihr einherzuziehen. Also erzählte er ihr von Aarmünsterburg, ohne Plan und Wahl,[67] was ihm gerade zunächst einfiel. Sonst verabscheute er zwar Aarmünsterburg, denn es war ja die Schulstadt, gehässig, mürrisch und zänkisch, voller Aufgaben, Zeugnisse, Vorwürfe und Nachsitzen, aber merkwürdig, heute, in der Abwesenheit, als er die Stadt jemand anders schilderte, erschien ihm das nämliche, was er im wirklichen Leben haßte, teilnahmswürdig und erwünscht. Und da sie seiner Rede aufmerksam lauschte, wurde er allgemach redselig.

Gesima wünschte zu erfahren, wie es in einem Theater zugehe, und ob er schon einmal in einer Oper gewesen sei.

Ah! da leuchteten seine Augen. In der ›Regimentstochter‹ war er gewesen. Und nun schilderte er ihr begeistert die unermeßliche Fülle von Herrlichkeiten, die er in der Regimentstochter geschaut und gehört: das Orchester mit seinen abenteuerlichen Instrumenten, die Bühne mit dem Vorhang und den wechselnden Szenen, erzählte ihr den ganzen Hergang der Geschichte, sang ihr die lieblichen Melodien vor und kam dermaßen in Eifer, daß er selber gestikulierte und schauspielerte und gar nicht mehr wußte, wo er war.

Während dessen sah ihn Gesima unverwandt an, mit großen, starren, glänzenden Augen, mitgenießend und mitgerissen, die geschilderten Herrlichkeiten anstaunend und mehr noch seine Begeisterung, dieses Lodern einer fremden Feuerkraft aus Seelengegenden, von welchen ihrem jungen kleinen Mädchenherzen bisher noch keine Ahnung geflüstert hatte.

Mit einem Sehnsuchtseufzer berichtete er dann in überschwenglicher Ekstase von Marie, der Regimentstochter in Person, der entzückenden Heldin der Oper. Ein Mädchen, so grundverschieden von den gemeinen Alltagsmädchen wie ein Engel von einem sündigen Menschen. Heldenhaft, mutig und tapfer in Gebärde, Blick und Gang, militärisch keck und frisch, in einer Art Uniformröckchen, ein Fäßchen angebunden, grüßend wie ein Soldat, und schön, schön! Eine farbige Schärpe um die Schultern,[68] ein kleines feines Mäulchen und prachtvolle Augenbrauen, die sie zuweilen zornig zusammenzog; und wo sie auch ging und was sie auch tat, immer schwebte ein unnennbarer Glanz um sie herum, der sie von allen andern Menschen auf der Bühne unterschied. Und wie sie singen konnte! viel lieblicher und höher als die übrigen, das trillerte nur so heraus. Aber das Aller-allerherrlichste war doch, wenn sie mit dem Fuß stampfte und dazu fluchte: »Sapperment«, »Sapperlot«, »Sackerlot«, einmal sogar »Donnerwetter«.

»Ich kann auch Sapperment sagen«, flüsterte Gesima wehmütig und neidisch.

»Du?« und betrachtete sie, als ob sie ihm Petri wunderbaren Fischzug verspräche. Und als sie wirklich laut und deutlich Sapperment rief und mit dem Fuß dazu stampfte, jubelte er hoch auf, umschlang sie mit den Armen und quetschte sie einige Male. Plötzlich ließ er sie los, sah scharf in die Ferne, wo er einen wichtigen Gedanken bemerkte, dann legte er ihr die Hände auf die Schultern und schaute ihr fest ins Gesicht. »Willst du, willst du nächsten Winter am Kadettenball meine Tänzerin sein? Es wird dir nicht zur Unehre gereichen, denn im Spätherbst werde ich Offizier. Dann erscheine ich im Tanzsaal mit einem Schleppsäbel und einer breiten roten Schärpe; Quasten und Fransen an der Schärpe, die bis ans Knie reichen; in den Kragen und in die Aufschläge der Ärmel (schwarzsamt, wie du siehst) kommen dann noch goldgestickte Granaten; Lackstiefel und weiße Hosen verstehen sich von selbst. Also, willst du? Gesima?«

»Unter der Bedingung, daß du mir eine Verbeugung machst.«

Da wippte er mit dem Oberkörper.

»Ja, aber von einem Offizier verlange ich bessere Verbeugungen, hübschere, gefälligere. Du verbeugst dich so, daß man dir ansieht, du bist einmal ein Storch gewesen. Komm, ich will dichs lehren.«

Und führte ihn abseits in den Schatten eines Nußbaumes und[69] erteilte ihm dort auf dem Rasen eine kleine Ergänzungstanzstunde. Als ers schließlich leidlich hübsch konnte, gaben sie sich die Hand und verlobten sich feierlich zum Kadettenball.

Nachher setzten sie ihre Reise fort, nunmehr als erklärte Freunde und Kameraden, traulich und herzlich. Die junge Eintracht machte sie so vergnügt, daß sie von selber zweistimmig zu singen anfingen, immer die nämliche Melodie: das jubelnde Siegesthema aus der Regimentstochter, das ihnen, je öfter sie es wiederholten, um so lieber wurde.

Während des Singens schlenkerte Gerold zum Spiel Gesimas Arm von sich, um ihn nach dem nächsten Schritt wieder aufzufangen wie einen Pendel; und ihr Arm federte so flügelleicht, daß er dem gelindesten Druck seiner Finger nachgab. Weil er aber dazu beständig in den blauen Himmel schaute, kam ihm vor, als ob ihre Stimme nicht neben ihm, sondern dort oben jauchzte, mit himmelblauen Tönen und silbersprühenden Aufleuchtern, sooft sie eine höhere seligere Note nahm.

Wer ihnen begegnete, vermählte sie mit dem Blick, lächelte ihnen wohlwollend einen Gruß zu und schaute ihnen nach. Eine Kleinkinderschar, die sie einholten, gaffte sie mit offenen Mündern an. »Nehmt euch ein Beispiel«, mahnte die Kindergärtnerin, auf Gerold und Gesima zeigend. »Tobias mit dem Engel Raphael«, vermutete ein naseweises Stimmchen aus der Kinderschar.

Quelle:
Carl Spitteler: Gesammelte Werke. 9 Bände und 2 Geleitbände, Band 4, Zürich1945–1958, S. 58-70.
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