Finale

[176] »Aus tiefsten Nächten dämmern neue Morgenröten«


Wie Siegesjauchzen ist es, das

Jahrtausende verrauschend weiterwerfen.

Die Berge donnern.

An den Eisenklammern

Rüttelt Prometheus,[176]

Rüttelt, rüttelt,

Sie rucken – springen –

Ein Erlösungsschrei

Gellt über die Welten hin.

Doch er

Schüttelt die Glieder, die lang entwöhnten,

Reckt die Arme, die lang gelähmten,

Schreitet hinab,

Ein Sturzbach, den der Tauwind losgeküßt –

Vom Kaukasus hinab zu seinen Menschen.

Festglocken dröhnen,

Sonnentrunkne Reigen

Flattern um ihn, dionysisch verschlungen,

Weinlaubumkränzt:

»Prometheus!

Gott des Lichts!

Heil dem Erlösten, der die Welt erlöst!«

An seinen Armen glühn die Eisenstriemen

In roten Flammen auf.

Und dann –

Plötzlich ist er's nicht mehr:

An den Händen klaffen

Braune Wundenmale wie von Kreuzesnägeln,

Blutige Schmerzensmale. –

Doch aus den Augen bricht ein goldner Strom

Von Morgenlicht,

Aus tiefen Balduraugen ...


Baldur-Prometheus-Christus –

Heiliges Leben[177]

In Licht, in Schönheit,

Nie sterbender Götterrausch

Glühendster Trunkenheit! ...

Nur fühlen, atmen, schwelgen. Seligstes

Nirwana und

Aus tausend Himmeln tausend Morgensonnen.

Quelle:
Ernst Stadler: Dichtungen, Band 2, Hamburg o.J. [1954], S. 176-178.
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Verstreute Gedichte aus den Jahren 1902 bis 1904
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