Die Syrene.

[199] Eine Fabel.


»Hört, Kinderchen! warnte die Mutter, folgt in nicht der Syrene, wenn sie euch singend zu sich lockt.« Wer ist denn die Syrene? fragten die Kinder. – »Das[199] ist, belehrte die Mutter, ein Meerfräulein. Von oben, bis zum halben Leibe gleicht es einem schönen Frauenzimmer und unten ist es vom halben Leibe an, ein abscheulicher Fisch. Sie singen aber gar wunderlich jedem der am Ufer geht zu, daß der von ihrem schönen Gesange Bezauberte ins Wasser ihnen nachgehen muß, wo er dann seinen sichern Untergang findet. Wer so eine Syrene sieht, muß gleich davon laufen, oder wenn er das nicht kann, sich die Ohren verstopfen, daß er nichts von ihren Lockungen hört.« Die Kinder versprachen gewiß der Mutter zu folgen. Am andern Tage gingen die beiden ältesten Knaben mit ihrem Netze ans Ufer, um zu fischen; sie bestiegen ihren kleinen Kahn und fingen ihr Geschäft an; da entdeckten sie das Meerfräulein, welches so schön sang und sie an sich lockte. Der älteste Knabe erinnerte seinen Bruder, sich geschwinde, nach der Mutter Ermahnung, die Ohren zu verstopfen, und nur auf sein Netz und die Fische und gar nicht nach der Betrügerin hinzusehen. Der unachtsame Knabe aber konnte sich nicht überwinden sein Ohr dem herrlichen Gesange zu verstopfen, und blickte immer nach der Syrene, bis sie ihn bezaubert und in den Abgrund gezogen hatte, wo er seinen Tod fand. Das Laster gleicht der Syrene; es lockt in der schönsten Gestalt, mit den[200] süssesten Tönen, und wehe dem, der dieser Lockung folgt; er ist verloren. Drum fliehe den, der dich zu etwas Unrechten verführen will, sei es auch noch so schön; giebst du ihm aber einmal Gehör, so bist du verloren.

Quelle:
Karoline Stahl: Fabeln, Mährchen und Erzählungen für Kinder. Nürnberg 21821, S. 199-201.
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