11. Kapitel

[26] Warum genießen wir voll Entzücken jede neu entdeckte Schönheit an der Geliebten?

Weil uns jede neue Schönheit die volle Befriedigung eines Wunsches gewährt. Wollen wir unsere Geliebte zärtlich, so ist sie es; wollen wir sie dann stolz wie Corneilles Emilie, so scheint sie uns, obgleich beide Eigenschaften in einem Charakter unmöglich zu vereinbaren sind, augenblicklich die Seele einer Römerin zu haben. Darin steckt ein starker Beweis dafür, daß die Liebe die mächtigste aller Leidenschaften ist. Die anderen passen ihre Wünsche der kalten Wirklichkeit an; nur in der Liebe bemüht sich die Wirklichkeit, sich nach unseren Wünschen zu richten. Sie ist die Leidenschaft, in der das heftigste Verlangen auch den größten Genuß bedingt.

Das Glück hat gewisse Grundbedingungen, von denen jegliche Befriedigung der einzelnen Wünsche in hohem Maße abhängt.

1. Die Geliebte scheint uns zu gehören weil nur wir sie glücklich machen können.

2. Sie ist die Richterin unserer Vorzüge. Dieser Standpunkt war von erheblicher Bedeutung an den galanten[26] und ritterlichen Höfen Franz des Ersten und Heinrichs des Zweiten, sowie an dem prunkvollen Hofe Ludwigs des Fünfzehnten. Unter einer besonnenen konstitutionellen Regierung geht den Frauen diese Art von Einfluß gänzlich verloren.

3. Sind wir romantisch veranlagt, so finden wir in den Armen der Geliebten Freuden, die um so überirdischer und über dem Schmutz gemeiner Gedanken um so erhabener sind, je höher unsere Seele hinausstrebt.

Die meisten jungen Franzosen sind mit achtzehn Jahren Schüler von Jean Jacques Rousseau. Das ist für ihr Glück von Bedeutung.

Mitten in diesen Wirrungen, die unser Verlangen nach Glück so irreführen, verlieren wir den Kopf.

Von dem Augenblick ab, wo man liebt, sieht selbst der Klügste kein Ding mehr so, wie es wirklich ist. Er achtet seine eigenen Vorzüge zu gering und überschätzt die geringfügigsten Gunstbezeugungen des geliebten Gegenstandes. Zweifel und Hoffnung erhalten mit einem Male etwas Romantisches. Wir schreiben nichts mehr dem Zufall zu, wir verlieren das Gefühl für Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit, und Dinge der Phantasie werden zu Dingen der Wirklichkeit, um uns unserem Glücke näher zu bringen.

Ein erschreckliches Anzeichen, daß wir den Kopf verlieren, ist die Tatsache, daß wir irgend einen schwer erkennbaren Umstand gleichsam für weiß ansehen und somit zugunsten unserer Liebe deuten. Im nächsten Augenblick bemerken wir, daß er in Wirklichkeit schwarz aussieht, und trotzdem finden wir, daß er für unsere Liebe ein günstiges Zeichen ist.

In diesem Zustande, wo unser Herz tödlichen Ungewißheiten[27] zum Raube fällt, sehnen wir uns unsäglich nach einem Freunde. Aber für einen Liebenden gibt es keinen Freund mehr. Das wußte man bei Hofe. Wir begehen Indiskretionen, die einzigen, die selbst eine feinfühlige Frau verzeihen kann.

Quelle:
Von Stendahl – Henry Beyle über die Liebe. Jena 1911, S. 26-28.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Über die Liebe
Über die Liebe: Essay
Über die Liebe, Jubiläumsausgabe
Über die Liebe (insel taschenbuch)
Über die Liebe
Über die Liebe