30. Aus dem Tagebuche Salviatis

[81] Ingenium nobis ipsa puella facit.


Properz


Aus Verzweiflung über das Unglück, in das mich die Liebe gebracht hat, verwünsche ich mein Dasein. Ich habe allen Mut verloren. Es ist trübes Regenwetter, ein später Frost hat die Natur wieder in den langen Winter zurückgestoßen, aus dem sie endlich dem Lenz entgegenging. Schiassetti, ein verabschiedeter Oberst, ein vernünftiger und kaltblütiger Freund, ist da, um mir ein paar Stunden die Zeit zu vertreiben.

»Du müßtest die Liebe lassen.«

»Wie mache ich das? Ja, wenn es wieder Krieg gäbe, meine Leidenschaft.«

»Es ist ein großes Unglück für dich, daß du Leonore kennen gelernt hast!«

Beinahe stimme ich ihm zu, so niedergeschlagen und mutlos fühle ich mich, so sehr beherrscht mich heute die Melancholie. Wir haben zusammen darüber nachgegrübelt, aus welchem Beweggrunde eine ihrer Freundinnen mich bei ihr verleumdet haben könnte. Wir sind auf nichts gekommen als auf das alte neapolitanische Sprichwort: »Frauen, die Jugend und Liebe hinter sich haben, grollen um nichts.« – Soviel ist sicher, jenes grausame Weib ist wütend auf mich. Einer ihrer Freunde[81] sagt es. Ich könnte mich zwar schrecklich an ihr rächen, aber gegen ihren Haß habe ich nicht die geringste Waffe.

Schiassetti ist fort. Ich gehe in den Regen hinaus, ohne zu wissen, was nun wird. Meine Wohnung, mein Zimmer, das ich seit der ersten Zeit unserer Bekanntschaft bewohne, als ich sie alle Abende sah, ist mir unerträglich geworden. Jedes Bild an der Wand, jedes Möbel, alles erinnert mich an das Glück, das ich in ihrer Gegenwart träumte und nun für immer verloren habe.

Im kalten Regen laufe ich durch die Straßen; der Zufall – ich will es Zufall nennen – führt mich vor ihren Fenstern vorüber. Die Nacht kommt, ich stehe mit Tränen in den Augen und starre zum Fenster ihres Zimmers hinauf. Plötzlich wird ein Vorhang ein wenig beiseite geschoben, als ob jemand auf den Platz hinuntersehen wolle, und schnell wieder geschlossen. Ich fühle einen körperlichen Schmerz am Herzen. Meine Knie wanken, ich muß mich in die Vorhalle des Nachbarhauses flüchten. Tausend Gedanken durchfluten meine Seele: vielleicht hat der Zufall den Vorhang bewegt; wenn es aber ihre Hand war, die ihn so eilig wieder schloß?

Zweierlei ist das größte Unglück auf der Welt: eine unerfüllte Leidenschaft und das dead blank.

In meiner Liebe fühle ich, daß es ein paar Schritte von mir entfernt, aber außerhalb meines Machtbereiches, ein maßloses Glück gibt, das von einem Worte, einem Lächeln abhängt.

Ohne Leidenschaft wie Schiassetti, finde ich an trüben Tagen nirgends eine Spur von Glück, ich zweifle, daß es für mich welches gibt, ich falle dem Spleen anheim. Man sollte keine starken Leidenschaften haben, nur ein wenig Neugier und Eitelkeit.[82]

Es ist jetzt zwei Uhr nachts. Seit ich die kleine Bewegung des Vorhangs gesehen habe, seit sechs Uhr abends, habe ich zehn Besuche gemacht und bin im Theater gewesen, überall schweigsam und in Gedanken versunken Den ganzen Abend habe ich mich mit der Frage gequält: »Hat sie in ihrer großen, so wenig begründeten Ungnade (wollte ich sie denn verletzen und gibt es in der Welt keine Entschuldigung dafür?) endlich wieder einen Augenblick Liebe für mich gefühlt?«


Der Unglückliche, der obige Bekenntnisse in seinen Petrarca geschrieben hat, ist bald darauf gestorben. Er war mein und Schiassettis bester Freund. Wir kannten alle seine Gedanken. Von ihm stammt, was in meinem Buche trübsinnig ist. Er war die eingefleischte Unklugheit. Übrigens war auch die Frau, derentwegen er so viele Torheiten beging, das interessanteste Wesen, das mir je begegnet ist. Schiassetti sagte mir: Glauben Sie denn, daß diese unglückliche Leidenschaft nur Nachteile für ihn gehabt hat? Zunächst lebte er in den denkbar schlechtesten Geldverhältnissen. Dieses Unglück, das ihn nach einer verwöhnten Jugendzeit von einem sehr mäßigen Vermögen abhängig machte, hätte ihn unter allen anderen Umständen zur Verzweiflung gebracht; so aber empfand er es kaum alle zwei Wochen einmal. Zweitens war diese Leidenschaft, was für einen Menschen von seiner geistigen Bedeutung ungleich wichtiger war, die erste richtige logische Schule, die er durchmachte. Das klingt sonderbar bei einem Manne, der am Hofe verkehrt hat, aber es erklärt auch seinen verwegenen Mut. Ohne mit einer Wimper zu zucken, hat er jene Stunde über sich ergehen lassen, die ihm alles raubte. Er war nur darüber erstaunt[83] wie einst im russischen Feldzuge, daß er keine außergewöhnlichen Empfindungen dabei hatte. Tatsächlich hat er niemals etwas so sehr gefürchtet, daß er nur zwei Tage daran hätte denken müssen. Nach Verlust dieses früheren Gleichmutes rang er nun seit zwei Jahren in jeder Minute nach Mut. Bis dahin wußte er nicht, was Gefahr ist.

Als er wegen seines unklugen Verhaltens und seiner Vertrauensseligkeit dazu verurteilt war, die Frau, die er liebte, nur zweimal im Monat zu sehen, haben wir gesehen, wie er freudetrunken ganze Nächte lang von ihr sprach, weil er einmal von ihr mit jener vornehmen Aufrichtigkeit aufgenommen worden war, die er an ihr anbetete. Er behauptete, Frau*** und er hätten besondere Seelen, die sich durch einen Blick verstünden. Er konnte es nicht fassen, daß die Geliebte dem spießbürgerlichen Klatsch, der ihm etwas Schlechtes nachsagte, irgendwelchen Wert beilegen konnte. Die Folge seines schönen Vertrauens zu einer von seinen Feinden umgebenen Frau war die, daß sie ihm ihre Türe verschloß.

»Frau *** gegenüber,« sagte ich ihm, »vergißt du deine Grundsätze. Man darf nur in den seltensten Fällen an Seelengröße glauben.«

»Glaubst du,« entgegnete er, »daß es in der Welt ein zweites Herz gibt, das besser zu dem ihren paßt? Gewiß, ich bezahle meine Leidenschaft zu Leonore mit dem Unglück, das ich in allen Unternehmungen meines äußeren Lebens habe, weil es mir an geduldigem Geschäftssinn fehlt und ich mich im Banne der augenblicklichen Eingebung zu Unvernünftigkeiten verleiten lasse.«

Man erkennt hierin den Schatten des Wahnsinns.

Für ihn war das Leben in Abschnitte von je vierzehn Tagen geteilt, deren Stimmung jedesmal die Farbe des[84] letzten Zusammenseins mit der geliebten Frau trug. Oft beobachtete ich, daß das Glück, das er aus einem anscheinend weniger kühlen Empfang schöpfte, im Vergleich zu seiner Traurigkeit über einen kalten Empfang, an Heftigkeit viel geringer war. Frau *** war mitunter auch nicht offen genug gegen ihn. Beides wagte ich ihm jedoch niemals vorzuhalten. Abgesehen davon, daß ihm sein Schmerz sehr tief ging und er ihn aus Zartgefühl niemandem, selbst seinen besten und selbstlosesten Freunden nicht, mitteilte, sah er in einem kühlen Empfang seiner Freundin den Sieg der prosaischen und ränkesüchtigen Seelen über die offenen und edelmütigen. Dann zweifelte er an der Tugend und besonders am Ruhme. Zu seinen Freunden sprach er nur noch von der traurigen Erkenntnis der Wahrheit, die er seiner Leidenschaft verdankte und die für den Philosophen einen gewissen Wert hatte. Neugierig beobachtete ich diesen seltsamen Menschen. Gewöhnlich findet man die Liebe aus Leidenschaft bei Leuten, die nach deutscher Art ein wenig einfältig sind, wie Schillers Don Carlos oder Rousseaus Saint-Preux.21 Er hingegen war einer der charakterfestesten und gescheitesten Männer, die ich je kennen gelernt habe.

Ich glaube, er war nach einer kalten Aufnahme nur dann ruhig, wenn er Leonores kühles Benehmen rechtfertigen konnte. Sobald er fand, daß sie kein Recht hatte, ihn schlecht zu behandeln, war er trostlos unglücklich. Nie hätte ich eine jeder Eitelkeit so bare Liebe für möglich gehalten.

Unaufhörlich erging er sich vor uns in Lobpreisungen der Liebe. »Wenn mir eine übermenschliche Kraft sagte: Zerbrich dieses Uhrglas und Leonore ist für dich dasselbe wie vor drei Jahren, eine gleichgültige Freundin,[85] wahrhaftig, nie im Leben hätte ich den Mut, das Glas zu zerbrechen.« Wenn ich ihn so törichte Sachen reden hörte, brachte ich es nicht fertig, ihm Vorwürfe zu machen.

Er fügte hinzu: »Wie am Ausgange des Mittelalters die Luthersche Reformation die Menschheit in ihren Grundlagen erschüttert und die Welt auf vernünftigem Untergrund erneuert und neu aufgebaut hat, so wird ein edler Mensch durch die Liebe erneuert und gefestigt. Dann erst legt er die Kinderschuhe des Lebens ab. Ohne diese Revolution bliebe er immer etwas schwerfällig und theatralisch. Erst seit ich liebe, habe ich Charaktergröße erlangt. Unsere militärische Erziehung ist so lächerlich. Obwohl ich zu leben verstand, war ich am Hofe Napoleons und in Moskau noch ein Kind. Ich erfüllte meine Pflichten, aber ich wußte nichts von jener heroischen Einfachheit, die die Frucht eines vollkommenen und willig gegebenen Opfers ist. Erst seit einem Jahre versteht mein Herz die Einfachheit der Römer des Titus Livius. Früher erschienen sie mir kalt im Vergleich mit unseren glänzenden Offizieren. Was jene für ihr Rom taten, fühle ich in meinem Herzen für Leonore. Wenn ich das Glück hätte, etwas für sie tun zu können, so wäre mein erster Wunsch der, es ihr zu verheimlichen. Das Verhalten eines Regulus und Decius war etwas vorher Vereinbartes, was ihnen keine plötzliche Überraschung bereiten konnte. Ich war klein, ehe ich liebte, gerade weil ich manchmal versucht war, mich groß zu finden. Ich empfand einen gewissen Willen, groß zu sein, und zollte mir dafür Beifall.«

»Auch im Hinblick auf das Gefühlsleben verdanken wir der Liebe alles. Nach den Tändeleien der ersten Jugend verschließt sich das Herz der Sympathie. Tod[86] oder Fernsein rauben uns die Jugendgespielen, wir sind gezwungen, mit gleichgültigen Kameraden durch das Leben zu gehen, immer gleichsam die Elle in der Hand und Vorteil oder Eitelkeit im Auge. Nach und nach geht alles Zarte und Edle in der Seele aus Mangel an Pflege ein, und mit kaum dreißig Jahren ist ein Mann für alle zarten und feinen Empfindungen gefühllos wie ein Stein. Mitten in dieser dürren Wüste läßt die Liebe einen Quell von Empfindungen, frischer und reicher als in der Jugend, hervorsprudeln. Damals war es eine ungewisse, törichte und ziellose Hoffnung ohne Opfermut, ohne beständige und tiefe Sehnsucht. Die Seele dürstete in jugendlichem Leichtsinn nach neuen Eindrücken und vernachlässigte heute, was sie gestern anbetete. Nichts dagegen ist zielbewußter, geheimnisvoller und ewiger sich selbst gleich als die Kristallbildung der Liebe. Damals hatten nur gefällige Dinge das Vorrecht, uns zu gefallen und nur auf kurze Zeit zu gefallen; jetzt haben selbst die gleichgültigsten Dinge einen rührenden Zusammenhang mit der Geliebten. Als ich einmal in eine große Stadt kam, die viele Meilen von Mailand, Leonorens Wohnort, entfernt liegt, hatte ich ein furchtsames und ängstliches Gefühl. An jeder Straßenecke fürchtete ich Alviza, ihrer Busenfreundin, zu begegnen, die ich persönlich gar nicht kannte. Alles hatte in meinen Augen ein geheimnisvolles und feierliches Aussehen. Als ich einen alten Gelehrten ansprach, schlug mein Herz heftig, und ich errötete, als man mir die Hausnummer von Leonores Freundin nannte.

Selbst die Härte der geliebten Frau ist voll unendlicher Anmut, wie man sie an ungeliebten Frauen nicht in den verführerischesten Augenblicken findet. Genau so[87] wirken die großen Schattenflächen der Bilder Correggios; weit entfernt, wie bei anderen Malern, gleichgültige Teile zu sein, die aber nötig sind, um die Bilder besser herauszubringen und die Figuren mehr hervortreten zu lassen, haben sie bei ihm ihren besonderen bestrickenden Reiz und verführen zu holden Träumen.«

»Sicherlich bleibt das halbe Leben, gerade die schönere Hälfte, einem Manne fremd, der nicht leidenschaftlich geliebt hat.«

Er mußte die ganze Kraft seiner Beredsamkeit aufbieten, um dem besonnenen Schiassetti standhalten zu können, denn dieser sagte gewöhnlich: »Wenn Ihr glücklich sein wollt, gebt Euch mit einem friedsamen Leben und täglich einer kleinen Dosis Glück zufrieden haltet Euch vom Würfelspiel der großen Leidenschaften fern.« – »Dann mußt du mir erst deine Weisheit geben,« entgegnete Salviati.

Ich glaube, er hätte manchmal sehr gern den Lehren des verständigen Obersten folgen mögen; er kämpfte mit sich, und er glaubte damit Erfolg zu haben, aber das ging über seine Kraft. Und wie stark war doch seine Seele!

Wenn er auf der Straße einen weißseidenen Hut, ähnlich wie ihn Frau*** trug, von weitem erblickte, so hörte sein Herz auf zu klopfen, und er mußte sich gegen eine Mauer lehnen. Selbst in seinen trübsten Augenblicken gab ihm das Glück, ihr zu begegnen, jedesmal ein paar freudetrunkene Stunden, auf die all sein Leid und alle klugen Einwendungen nichts vermochten.22 Als er starb, waren wir uns darüber einig, daß sein Charakter in den zwei Jahren seiner hochherzigen und grenzenlosen Leidenschaft an edlen Eigenschaften viel gewonnen hatte.[88] Wenigstens in dieser Beziehung hatte er sich richtig beurteilt. Wäre er weiter am Leben geblieben und einigermaßen unter günstigen Umständen, so hätte er sich vielleicht einen Namen gemacht. Vielleicht auch wäre sein Verdienst gerade wegen seiner Einfachheit klanglos verhallt.


»O armer Mann,

Es ging dahin in seiner Todesstunde

Manch holder Traum und mancher Hoffnungsstern.

Wie schön er war, wie blond, wie stattlich groß,

Mit einer Heldennarbe auf der Stirne ...«23


Quelle:
Von Stendahl – Henry Beyle über die Liebe. Jena 1911, S. 81-89.
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