42. Noch einmal Frankreich

[136] Frankreich nimmt in der Anlage dieses Buches viel Raum ein, weil Paris dank der Überlegenheit seiner Literatur und seiner Sprache der Salon Europas ist und bleiben wird.

Drei Viertel aller Liebesbriefe in Wien wie in London werden französisch geschrieben oder sind voll von französischen Wendungen und Worten und Gott weiß in was für einem Französisch.39

Mir scheint, es sind zwei Ursachen, die Frankreich hinsichtlich der großen Leidenschaften der Originalität beraubt haben:

1. Das echte Ehrgefühl oder der Wunsch, Bayard zu gleichen, um in der Gesellschaft Ansehen zu genießen und täglich seine Eitelkeit befriedigt zu sehen.

2. Das falsche Ehrgefühl oder der Wunsch, Leuten von gutem Ton aus der ersten Pariser Gesellschaft zu gleichen, zum Beispiel in der Kunst, in einen Salon einzutreten,[136] einen Rivalen seine Abneigung merken zu lassen oder sich mit seiner Geliebten zu überwerfen.

Das falsche Ehrgefühl bietet unserer Eitelkeit weit mehr Genuß als das echte, schon an und für sich, weil es jedem Einfaltspinsel verständlich ist, dann aber auch, weil es sich den täglichen und selbst stündlichen Handlungen anpaßt. Man kann beobachten, daß Leute mit diesem falschen Ehrgefühl in der Gesellschaft sehr gut aufgenommen werden, während das Gegenteil unmöglich ist.

Der Ton der großen Gesellschaft verlangt:

1. Alle großen Interessen mit Ironie zu behandeln. Nichts ist natürlicher; früher konnten Leute aus der wirklich großen Gesellschaft durch nichts innerlich berührt werden; sie hatten gar nicht die Zeit dazu. Der Landaufenthalt ändert das. Überdies geht es einem Franzosen gegen die Natur, sich eine Bewunderung anmerken zu lassen. Er würde sich dadurch etwas vergeben, nicht nur vor dem Bewunderten, sondern besonders vor seinem Nachbar, falls es diesem einfiele, über den Gegenstand der Bewunderung zu spotten.

In Deutschland, Italien und Spanien hingegen liegt in der Bewunderung Aufrichtigkeit und Glück. Dort ist der Bewunderer auf seine Empfindung stolz und bedauert den Auszischer; ich sage nicht den Spötter, denn den gibt es nicht in Ländern, wo die einzige Lächerlichkeit die ist, den Weg zum Glück, nicht aber die Nachäffung fremder Manieren, zu verfehlen. Im Süden erzeugt das Mißtrauen und die Befürchtung, im wirklich empfundenen Genuß gestört zu werden, eine angeborene Bewunderung für Luxus und Pracht. Man sehe sich eine funzione in Cadix an; das steigert sich bis zum Wahnsinn.40[137]

2. Ein Franzose hält sich für den unglücklichsten und lächerlichsten Menschen, wenn er gezwungen ist, einsam zu sein. Aber was ist Liebe ohne Einsamkeit?

3. Ein leidenschaftlicher Mensch denkt nur an sich; ein Mensch, der nach Beachtung trachtet, denkt nur an andere. Mehr noch: vor 1789 fand man in Frankreich persönliche Sicherheit nur, wenn man einem Stande, zum Beispiel dem Richterstande, angehörte und von den Angehörigen dieses Standes beschützt wurde.41 Die Meinung eines Nachbarn war also ein wesentlicher und notwendiger Teil des Glückes. Am Hofe war das noch mehr der Fall als in der Stadt Paris.

Man kann sich leicht vorstellen, welchen Einfluß solche Anschauungen, – die allerdings nach und nach außer Kraft treten, doch in Frankreich noch für ein Jahrhundert ausreichen, – auf die großen Leidenschaften ausüben.

Ich kann mir einen Menschen vorstellen, der sich aus dem Fenster stürzt, dabei aber in gefälliger Haltung unten auf dem Pflaster anzulangen bestrebt ist.

In der Leidenschaft gleicht ein Mann sich selbst und keinem anderen, was in Frankreich die Quelle aller Lächerlichleiten bildet. Zudem beleidigt man die anderen, und das verleiht der Lächerlichkeit noch Flügel.

Quelle:
Von Stendahl – Henry Beyle über die Liebe. Jena 1911, S. 136-138.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Über die Liebe
Über die Liebe: Essay
Über die Liebe, Jubiläumsausgabe
Über die Liebe (insel taschenbuch)
Über die Liebe
Über die Liebe