48. In Irland und Schottland

[160] Ich liebe Irland zu sehr und ich habe mich dort zu wenig aufgehalten, um davon zu sprechen. Ich bediene mich der Beobachtungen eines Freundes.

Der gegenwärtige Zustand Irlands ist heute (1822) zum zwanzigsten Male seit zwei Jahrhunderten in jener eigentümlichen Phase, die mutigen Entschlüssen so förderlich und der Langeweile so feindlich ist, in einem Zustand, in dem sich Leute, die eben noch fröhlich zusammen frühstücken, zwei Stunden später auf einem Schlachtfelde wieder begegnen können. Nichts entspricht kräftiger und unmittelbarer der den zarten Leidenschaften günstigen[160] Seelenstimmung, der Natürlichkeit. Nichts schützt mehr vor den beiden größten englischen Lastern, dem cant und der bashfulness (Heuchelei und Ängstlichkeit aus krankhaftem Stolz).

Man muß Irland für sehr unglücklich halten, da es seit zwei Jahrhunderten unter der feigen und grausamen Gewaltherrschaft Englands blutet. Es tritt in dem moralischen Zustande Irlands ein Schreckensgespenst hinzu, der Priester ...

Seit zwei Jahrhunderten wird Irland ungefähr so schlecht regiert wie Sizilien. Und doch ist Sizilien das bei weitem glücklichere Land von beiden, die zugunsten weniger von Narren beherrscht werden. Seine Regierung läßt ihm wenigstens die Liebe und das Vergnügen. Sie hätte ihm diese wie alles andere wohl auch geraubt, aber glücklicherweise gibt es in Sizilien nur wenig von jenem moralischen Übel, das den Namen Gesetz und Regierung trägt. Ich bezeichne als moralisches Übel jede Regierung, die nicht zwei Kammern hat. Die einzige Ausnahme davon ist die, wenn das Staatsoberhaupt ein Muster an Redlichkeit ist wie zum Beispiel in Sachsen.51

Die alten Leute und die Priester machen die Gesetze und halten auf ihre Ausübung; das erkennt man an der vielfach lächerlichen Eifersucht, mit der auf den britischen Inseln das Vergnügen verfolgt wird. Das Volk könnte zu seiner Regierung wie Diogenes zu Alexander sagen: »Geh mir ein wenig aus der Sonne!«

Durch Gesetze, Vorschriften, Gegenvorschriften und Strafverfügungen hat die Regierung in Irland die Kartoffel eingeführt. Die Bevölkerung Irlands übertrifft an Zahl bedeutend die Siziliens; das heißt, man hat ein paar Millionen rechtloser dummer Bauern gezwungen,[161] in Arbeit und Elend vierzig oder fünfzig Jahre hindurch ein unglückliches Leben in den Sümpfen des alten Erin zu fristen und dabei pünktlich den Zehnten zu zahlen. Ein hohes Wunder! In der heidnischen Religion hätten diese armen Teufel wenigstens ein Glück genossen, so aber müssen sie auch noch den heiligen Patrick anbeten.

In Irland sieht man nichts weiter als Bauern, die unglücklicher sind als Wilde. Nur sind es, statt zehntausend wie im Naturzustande, acht Millionen52 geworden, die fünfhundert Absentees in London oder Paris ein Leben in Überfluß ermöglichen.

In Schottland ist die Gesellschaft unendlich fortgeschrittener; dort ist die Regierung in vielen Beziehungen gut; Verbrechen sind selten, es gibt Bücher und keine Bischöfe. Die zarten Leidenschaften kommen dort viel besser zur Entwicklung. Wir brauchen also weiter keine trüben Betrachtungen anzustellen und dürfen zum Lächerlichen übergehen.

Man sieht den schottischen Frauen eine tiefe Melancholie an. Besonders verführerisch wirkt sie auf dem Balle, wo sie dem Feuer und dem leidenschaftlichen Eifer bei ihren Nationaltänzen etwas eigenartig Pikantes hinzufügt. Edinburg hat noch einen zweiten Vorteil, weil es sich der gemeinen Großmacht des Goldes entzogen hat. Hierdurch und durch die seltsame, wilde Schönheit ihrer Lage bildet diese Stadt den vollen Gegensatz zu London. Wie Rom erscheint das schöne Edinburg als der richtige Ort zu einem beschaulichen Dasein. Der rastlose Wirbel und die unruhigen Forderungen des täglichen Lebens mit seinen Vor- und Nachteilen gehören nach London. Edinburg scheint mir seinen Tribut an den Teufel durch einen geringen Hang zur Pedanterie zu zahlen. Die Zeiten, wo Maria Stuart im alten Holyrood Hof hielt[162] und Riccio in ihren Armen ermordet wurde, waren für die Liebe günstiger als die, (darin werden mir alle Frauen recht geben,) wo man lange und sogar in ihrer Gegenwart darüber streitet, ob dem neptunischen oder vulkanischen System der Vorrang zu geben sei. Lieber ist mir noch ein Gespräch über die neue Uniform, die der König der Garde verliehen hat, oder über die Herrn B*** entgangene Lordschaft, Dinge, die London bei meinem dortigen Aufenthalt gerade beschäftigten, als eine Unterhaltung von den besten Forschungen über die Natur der Felsen ...

Ich will nichts über den schrecklichen schottischen Sonntag sagen, gegen den einer in London wie ein Vergnügungsausflug erscheint. Dieser Tag, der zur Ehre des Himmels bestimmt ist, ist das beste Bild der Hölle, das ich je auf Erden erblickt habe. »Wir wollen nicht so schnell laufen,« sagte ein Schotte zu einem ihm befreundeten Franzosen auf dem Heimweg von der Kirche, »sonst sieht es aus, als gingen wir spazieren.«

Irland ist von allen drei Ländern dasjenige, wo sich, wie mir scheint, am wenigsten Heuchelei findet. In Irland findet man eine ausgelassene und sehr liebenswürdige Lebhaftigkeit. In Schottland hält man den Sonntag streng ein, aber am Montag tanzt man mit einer Freude und einer Hingabe, wie man sie in London nicht kennt. Es gibt viel Liebe unter der Landbevölkerung Schottlands. Die Allmacht der Phantasie hat dieses Land im sechzehnten Jahrhundert französisiert.

Der furchtbare Fehler der englischen Gesellschaft, der an einem einzigen Tage mehr Trübsal heraufbeschwört als Verschuldung und ihre Folgen, ja als selbst der tödliche Kampf zwischen reich und arm, ist in einem Satze[163] ausgedrückt, den ich in diesem Herbst in Croydon vor dem schönen Standbild des Bischofs hörte: »In der Gesellschaft will sich kein Mann in den Vordergrund stellen, aus Furcht, in seinen Erwartungen getäuscht zu werden.«

Man kann sich vorstellen, welche Gesetze solche Männer unter dem Namen der Schamhaftigkeit ihren Frauen und ihren Geliebten aufdrängen müssen.

Quelle:
Von Stendahl – Henry Beyle über die Liebe. Jena 1911, S. 160-164.
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