Neunundzwanzigstes Kapitel.

[90] Für des Mannes Verständniß vom Schriftstellerhandwerk möchte ich keinen Deut geben, der das nicht einsähe: daß die allerbeste Erzählung von der Welt, wenn man sie unmittelbar hinter die gefühlvolle Apostrophe an meinen Onkel Toby gestellt hätte, dem Gaumen des Lesers schaal und nüchtern vorkommen müßte; deshalb schloß ich mein Kapitel, obgleich ich mitten in meiner Geschichte war.

Schriftsteller haben einen Grundsatz mit den Malern gemein: Wo genaues Nachbilden unsere Gemälde weniger effektvoll machen würde, da wählen wir das kleinere Uebel, denn es dünkt uns verzeihlicher, gegen die Wahrheit als gegen die Schönheit zu sündigen. Dies muß indeß cum grano salis verstanden werden; doch dem sei wie ihm wolle, – denn da der Vergleich eigentlich nur deshalb hier angebracht wurde, um die Apostrophe sich abkühlen zu lassen, so ist es gar nicht wesentlich, ob der Leser damit einverstanden ist oder nicht.

Da mein Onkel Toby am Ende des dritten Jahres bemerkte, daß der Parameter und Halbparameter der Hyperbel seine Wunde irritire, so gab er plötzlich das Studium der Wurfgeschosse auf und befaßte sich nur noch mit dem praktischen Theile der Befestigungskunst, zu welcher die Neigung, wie ein zurückgehaltener[90] Springquell, jetzt mit doppelter Kraft wieder in ihm aufsprudelte.

In diesem Jahre war es, wo mein Onkel anfing, von dem täglichen Wechseln eines frischen Hemdes abzusehen, seinen Barbier oft unverrichteter Sache wegschickte, und seinem Wundarzte kaum Zeit genug zum Verbinden seiner Wunde gab, um die er sich jetzt so wenig bekümmerte, daß er unter sieben Malen nicht Einmal fragte, wie es damit stünde. Da, mit Einem Male – die Veränderung ging wirklich wie ein Blitz vor sich – fing er an, nach Genesung zu seufzen, klagte meinem Vater, wurde ungeduldig gegen den Wundarzt, und eines Morgens, als er denselben die Treppe heraufkommen hörte, schlug er seine Bücher zu, warf seine Instrumente bei Seite und machte ihm die bittersten Vorwürfe wegen der Verzögerung der Heilung, die, wie er sagte, sicherlich nun schon lange hätte beendigt sein können. Lange verweilte er bei den Schmerzen, die er ausgestanden, und bei der Pein, welche eine vierjährige traurige Gefangenschaft ihm auferlegt habe, indem er hinzufügte, daß er solchem Elend gewiß schon längst erlegen wäre, wenn nicht die Liebesbeweise und die herzlichen Ermunterungen seines trefflichen Bruders ihn aufrecht erhalten hätten. Mein Vater war gegenwärtig. Onkel Toby's Beredsamkeit trieb ihm Thränen in die Augen: es kam so unerwartet. Von Natur war mein Onkel Toby nicht beredt, deshalb wirkte es um so mehr. – Der Wundarzt gerieth in Verlegenheit; nicht daß hier kein Anlaß zur Ungeduld gewesen wäre, selbst eine viel heftigere wäre gerechtfertigt gewesen, – aber es kam so unerwartet. In den vier Jahren, daß er ihn bedient hatte, war ihm so etwas nie an meinem Onkel Toby vorgekommen, derselbe hatte nie ein Wort des Aergers oder der Unzufriedenheit geäußert, er war immer so geduldig, so ergeben gewesen.

Zuweilen verlieren wir das Recht, uns zu beklagen, wenn wir nicht davon Gebrauch machen, aber oft verdreifachen wir dadurch seine Wirkung; der Wundarzt war höchlich erstaunt, aber noch viel mehr wurde er es, als mein Onkel fortfuhr und darauf bestand, die Wunde müsse sogleich geheilt werden oder[91] er würde zu Monsieur Ronjat, dem Leibchirurgus des Königs, schicken, der würde es schon zu Wege bringen.

Das Verlangen nach Leben und Gesundheit ist dem Menschen eingeboren; die Sehnsucht nach Freiheit und nach Verbesserung seines Zustandes ist diesem Verlangen verwandt. Das hatte mein Onkel Toby mit der ganzen Gattung gemein, und alles dies trug zu seinem lebhaften Wunsche bei, hergestellt zu werden und das Zimmer verlassen zu können; aber ich sagte schon früher, daß in unserer Familie alles anders vor sich ging als bei andern Leuten, und aus der Zeit, wie aus der Art, in welcher dieses heftige Verlangen sich jetzt kund that, wird der scharfsinnige Leser wohl schon vermuthet haben, daß es damit eine besondere Bewandniß, einen Haken in meines Onkels Toby Kopfe haben mußte. Dem war allerdings so, und es soll der Gegenstand des nächsten Kapitels sein, zu zeigen, welches diese Bewandniß und dieser Haken war. Sobald dies geschehen, wird es dann wohl Zeit sein, zum Kamine im Familienzimmer zurückzukehren, wo wir meinen Onkel Toby mitten in seiner Rede sitzen ließen.

Quelle:
Sterne [, Lawrence]: Tristram Shandy. Band 1, Leipzig, Wien [o. J.], S. 90-92.
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