10. Ehrenpreis

[97] 27 Juni 1834


Um zwölf Uhr in der Nacht kam ich erst zurück und brachte Freude, Sehnsucht, Gedichte, Müdigkeit, Hirsche und Reiter genug nach Hause, Bäume und Häuser obendrein.

Eben wird alles geordnet und dann zu Sandi getragen Der Bube wird mir ordentlich lieb, weil ich ihm eine Freude zudenke, und ich machte weit mehr, als ich anfangs dachte, und konnte ordentlich nicht aufhören, als ich einmal daran war, obwohl alle Kellner zuschauten. Beiläufig, Titus, – es muß eine große Freude sein, Kinder[97] zu haben, und ich würde ein Narr mit ihnen, ritte vergnügt auf einem Steckenpferde und hinge mir allen Ernstes eine Kindertrommel um.

Es ist heute Sonntag, und ich will ihn, wie ich versprach, ganz für Dich ausschießen und Dir eine Menge aufschreiben und schildern. Sonntag ist hierorts der Tag der Landausflüge, und was in der Woche am Webstuhle des Lebens keuchte, gibt sich am Sonntage der Freude und wo möglich dem Lande hin – und an diesem Tage gilt der Vers in seinem vollen Maße:


Ergo omnis longo solvit se Teucria luctu:

Panduntur portae; – –


und aus den expansis portis strömt Wien hinaus. So will ich denn auch auf den gestrigen Spaziergang heute wieder einen machen, aber nur ganz allein mit Dir, das heißt ich will ein Stück Wiener-Wald bewohnen und aus der einen oder andern Baumgruppe einen Flug Brieftauben an Dich abfertigen. Ich trage zu solchem Behufe tragbares Schreibgeräte mit mir, da ich zu artig bin, an Dich mit Bleifeder zu schreiben; zudem muß alles, was an Dich losfliegt, gewissenhaft in mein hiesiges Tagebuch eingetragen werden.

Studiere Dir nur fleißig den Plan von Wiens Umgebungen, den ich Dir sandte, denn Du wirst noch viele Spaziergänge mit mir tun müssen, ehe Du da bist – und noch mehrere, wenn Du da bist – und es ist der Mühe wert: Stille Täler, ganz abgeschieden – Waldeinsamkeit mit ganzen Wolken von Vögeln, die den blauen Himmel ansingen – Aussichten ins Hochgebirge – selbst Schluchten mit flinken Wässerlein, als wärest Du in der Wildnis, nicht etwa eine bis zwei Meilen von einer der lebhaftesten Hauptstädte der Welt. Viele, selbst hier Geborne, kennen die eigentlichen Schätze nicht, weil sie nicht weit von den Spazierwegen abgehen, die man ihnen überall bahnt; aber da muß man abseits gehen, wohin[98] der Schwarm nicht kommt, dort ist das Schönste, und ich will Dich schon herumzerren, wenn Du nur einmal da bist; Du weißt, ich habe ein eignes Talent im Auffinden solcher Dinge. Und noch dazu der heurige Sommer, ewig schön, so recht für die Dichter, Maler, Spaziergeher, Weinfreunde.

Suche auf Deiner Karte Mariabrunn, dann wirst Du finden, daß dort ein Waldgebirge beginnt, das mit dem Norischen Alpenzuge zusammenhängt und hier Wienerwald genannt wird. In einem schmalen Tale, welches rechts von dem Dorfe Weidlingau über eine Wiese hineinläuft, sitzt in diesem Augenblicke Dein Freund an einem hölzernen Tischchen in dem schönsten Buchenschatten und schreibt dieses für Dich. Freilich steht neben dem Tintenfasse auch ein Fläschchen Nußberger; denn das Ungeheuer eines Gesellschaftswagens hat uns etwas gerädert, und wenigstens ich muß, wie der barmherzige Samaritaner, auf die zerschlagenen Glieder das Labsal des Weines gießen, und bis jetzt tunkte ich öfter den Zwieback als die Feder ein. Es geht mir wieder, wie alle Mal, wenn ich unendlich viel zu schreiben weiß, daß ich vor Fülle des Stoffes gar nicht anfangen kann und mich blätterweise in Unbedeutenheiten umtreibe, gleichsam das Köstlichste, Labende aufzuschieben, wie einen auserlesenen Nachtisch – und am Ende kommt der Abend oder ein Regen oder ein Besuch, und ich kann das Zuckerwerk nur ruhig in der Tasche lassen. So ging es mir tausend Male.

Durch meine Buchenzweige, die ein hereinspielender Sonnenstrahl in grünes Feuer setzt, sehe ich auf die dämmernden Farben der Tiergartenwälder; höher hängt in dem Laubwerk das blaue Email des Himmels, in tausend Stücke zerschnitten, wie lauter Vergißmeinnicht. Ein Fink schlägt zu meiner Rechten fast leidenschaftlich; aus dem vom Walde abwärts liegenden Wirtsgarten[99] verlieren sich einzelne Stimmen von Leuten herauf, die frühstücken und sich herumjagen; die Biene summt, ein goldner Falter weht vorüber, stahlblaue Fliegen sonnen sich auf der Tischecke, langbeinige Dinge schreiten auf der Bank und auf meinem Papiere, und rings um mich regt, drängt und treibt tausendfaches Leben in tausendfachen Gestalten; funkelndes Geschmeide rührt sich im Grase, auf dem Wege und auf Baumstämmen; gefiederte Familien lärmen durcheinander, und Sonntagsglockenläuten kommt über das Gebirge. Die Zweige flüstern nicht, aber ein melodisches Summen irrt in ihnen von tausend Wesen, die im Sonnenstrahle spielen und arbeiten, und dieses fortgehende Summen dient als zarter Grund, auf dem sich die andere Morgenmusik geltend macht.

An diesem versteckten Waldtische sitze ich und will ihn bis nach Mittag bewohnen, nichts um mich, als die Millionen kleiner Mitwaldbewohner, die bereits alle an ihre Geschäfte gingen – und zwei liebste Gestalten, die ich mir auf den ganzen Tag geladen habe und die ich still überall mit mir herumführen will: Dich und sie. Wenn ja von dem außen schwärmenden Volke einer herein verschlagen wird und den fremden Mann an dem abgelegenen Tische sitzen sieht und noch dazu schreiben und die hundert Sachen ringsum ausgebreitet, so geht er schon sachte vorüber, weil er den Sonderling nicht stören mag. Wie aber soll ich nun beginnen, Dir diese Tage her abzuschildern? Binde alle bisher von mir erhaltenen Papiere zusammen und schreibe auf den Umschlag: ›alte Geschichte‹ – die neue, die romantische, beginnt mit jenem Balle bei Aston. Titus, eine Tempelhalle, weit und ungeheuer, hat sich in meinem Herzen aufgebaut, und ich trage einen neuen seligen Gott darinnen. Wärest Du nur da, oder wenigstens Lothar, der auf dem Hochschwab oder Schneeberg Studien macht; denn so habe ich keine[100] Seele zum Umgang, das heißt ich habe eine Menge, aber alle taugen nicht dazu, daß man vor ihnen ein kindisches, seliges Herz ausschütte – und so trage ich es schon Wochen lang voll und ahnungsreich in den tosenden Gassen herum, oder, wenn mich diese drücken, so suche ich das Freie und bette es in den Schatten eines Baumes und horche seinen Blättern, die sich Sommermärchen erzählen; dann wird es so ruhig und sanft in mir, wie Sonntags auf den Feldern. – Oder ich lese eine Nacht aus, in der ich auf einen der Westberge Wiens steige, um den Tagesanbruch über der großen Stadt zu sehen, wie erst sachte ein schwacher Lichtstreif im Osten aufblüht, längs der Donau weiße Nebelbänke schimmern, dann die Stadt sich massenweise aus dem Nachtdufte hebt, teilweise anbrennt, teilweise in einem trüben Goldrauche kämpft und wallt, teilweise in die grauesten Ferntöne schreitet, und wie der ganze Plan durchsät von goldnen Sternen ist, die da von Fenstern blitzen, von Metalldächern, Turmspitzen, Wetterstangen, und wie draußen das blaßgrüne Band des Horizonts schwach und sanft durch den Himmel gehaucht ist.

Und wenn ich nicht mit der Natur umgehe, so sitze ich zu Hause und arbeite an meinen Tafeln – oft sehe ich sie stundenlang an und habe das Gefühl, als sollt ich wunderschöne Dinge machen – da kommen mir dann Träume von glänzenden Lüften und schönen Wolkenbildern darin, lieben fernen Bergen und ihrem Sehnsuchtsblau, wie Heimwehgefühle, von sonnigen Abhängen, von Waldesdunkel und kühlen Wässern drinnen und von tausend andern Dingen, die sich nicht erhaschen lassen, schattenhaft und träumerisch durch die Seele ziehend, wie Vormahnungen von unendlicher Seligkeit, die bald, bald kommen müsse. Dann male ich und lasse das Ding so gehen, wie es geht, und es ist mir, Titus, als finge manches Bild an, mir zu gefallen.[101]

Nachmittags endlich, wenn sich die Hitze mildert, gehe ich zum Essen, was, wie Du weißt, bei mir im Sommer sehr wenig ist, und dann in ein wohlbekanntes Vorstadthaus, durchschreite seinen Hof und trete in den Garten, wo zwei stille und zwei schelmische Augen, Luciens und Emmas, mich willkommen heißen und zu einem Nestor von Apfelbaum laden, der sein Schattengesprenkel auf ihre weißen Kleider, auf den Sandweg, auf Tisch und Sessel streut. Dort harre ich dann ruhig, bis der freundlichste aller Sommerstrohhüte durch den Flieder gewandelt kommt, und dann aus ihm zu uns ein sonnenschönes Antlitz schaut, ein Antlitz, das sich täglich tiefer und süßer in meine Seele senkt. Wenn sie dann den Hut weglegt oder mit dem grünen Bande an den Baum hängt, und nun so dasteht, die ernsten Augen freundlich auf uns gerichtet, den sanften Nacken vorgebogen: so ist es eine schöne attische Muse, die uns grüßt, die im weißen Kleide vor uns steht und die Wangenrosen, die ihr von der Bewegung angeblüht sind, sanft verglühen läßt.

Endlich, mein Pylades, bin ich dort angelangt, wohin ich doch eigentlich mit meinem ganzen heutigen vorgerichteten Tage, mit meinem Waldtischchen, mit allen Einleitungen und allen Aufschiebungen ganz allein zielte bei ihr. Nun habe ich euch beide neben mir, und ich will euch den ganzen Tag nicht entlassen und ein wahres Götterleben fahren. Ihr sollt mir mit einander bekannt werden und euch wacker lieben.

Nichts stört und hindert uns hier; der Sonnenstreifen auf dem Tische rückt nicht näher, sondern ist ganz weg; der Fink schweigt, die kleine Gesellschaft, die gegen meinen Platz gewandert kam, ging bescheiden vorüber, und ein einladendes Dämmern ist überall zwischen den Stämmen, nur hie und da geschnitten von einem glänzenden Streiflichtchen, das traulich herüberschaut. Ich fahre also fort:[102]

Es ist recht lieb von ihr, daß sie, selbst wenn die Tante mitkommt, und obwohl für unsere schönen und wissenschaftlichen Sitzungen bestimmte Stunden festgesetzt sind, immer früher kommt (ich natürlich ohnehin immer viel zu früh), daß noch einiges Gespräch vorher hin und wider gehen könne. Das Buch, aus dem diesen Abend gelesen werden soll, liegt schon seitwärts, und zeigt den grünen Einband, den alle Bücher aus Astons Sammlung und auch Angelas ihre haben; aber kein Mensch darf es eher aufmachen, als bis die Stunde schlägt, weil wir alle das leidige Vorausnaschen nicht leiden können. Wenn aber dann der Glockenschlag fällt, dann wird bei dem eingelegten Zeichen geöffnet und im reinen Ergusse das abgesteckte Feld durchgangen, während alles Stricken, Sticken, Nähen und anderes weibliche Lückenbüßen ruhen muß, weil die Augen auf dem Vorlesenden und die Herzen im Buche sind. Emma ist nicht immer dabei, Aston nie; er ist froh, wenn er fort kann, weil wir unpraktisches Zeugs lesen. Aber seine Freude hat er doch an unserm Treiben, und das Vergnügen mußten wir ihm lassen, daß er uns für unsere Wissenschaften ein ›Prytanäum‹ schuf und uns damit überraschte. Er hat es uns allen zu Danke gemacht. Drei Zimmer voll Gartengrün und Pappelschatten hat er dafür eingerichtet. Von dem Apfelbaume führt die Treppe hinan, und lieb und heiter ist es in ihnen, wie die Kunst; denn sie sehen über den Garten auf noch mehr Gärten und auf die Berge, und täglich lodert bei den großen Fenstern der Abendbrand des Himmels herein, dann schießen Goldflammen über das Glas der Bücherkästen und ihre grünseidnen Vorhänge; auf dem Klaviere und den Papieren wanken Laubschatten und Purpurlichter, und endlich auf das weiße Kleid und in das Antlitz der schönsten Gestalt wirft er ein ganzes, sanftes Tabor von rosenfarbener Verklärung. – Wenn nun mitten unter dies die Worte eines großes Toten tönen[103] und die Begeisterung anfängt, ihre Fittige zu dehnen: dann steht sachte in drei Herzen der Geist empor, den der Dichter rufen wollte, und verscheucht das lastende Gespenst, Alltäglichkeit. Wenn aus den schwarzen Zeilen allmählig sich die Gedanken heben, die einst ein gottähnliches Herz gedacht – dann habe ich ein Angesicht gegenüber, ein Angesicht, gespannt von Aufmerksamkeit und Empfindung; ach, und ich liebe es mit zagendem Herzen; denn es wird dann unnennbar schöner. Der reine Demant sittlicher Freude hängt in ihren Augen, und in ihren Zügen blüht ein weiches, großes Herz – aber mir tritt sie wie ein unerreichbarer Stern, vom Sehrohr verfolgt, in noch weitere und noch tiefere Himmel zurück.

Auch Lucie verklärt ihr Wesen in den Strahlen dieses schönen weiblichen Geistes, und aus ihrem Innern wächst ordentlich täglich sichtbarer eine höhere Gestalt hervor, an der die Weihe des ernsten Strebens sichtlich wird; denn sie ging schon seit länger her unter Angelas Leitung an die Wissenschaften der Männer und erobert sich freudig ein Feld nach dem andern. Selbst die kindische Emma wird eingeschüchtert von ihrer vorausschreitenden Schwester; sie mag es wohl fühlen, daß hinter dem pedantischen Krame, wie sie ihn nennt, wohl mehr stecke, als sie ahnte und mancher sich gern den Anschein gäbe; denn das drückt den andern ewig. – Das Wissen stellt den Menschen glänzender unter seine Brüder zurück, wie einen fremden Weisen, vor dem man Ehrfurcht hat.

Der Gedanke, daß wir statt des gebräuchlichen unersprießlichen Besuchwesens einen geistigen Umgang eröffnen sollen mit den größten Menschen, lebenden und toten; daß wir an ihnen uns erheben und vor uns selber liebenswerter werden mögen, ging von Angela aus, der jedes Leere fremd ist; darum sie auch in jenem Umgange, der unsern Jungfrauen eigen zu sein pflegt, linkisch und unwohl ist, und eben darum von den Besuchen[104] gehaßt und verspottet wird. Unser Tun ward schon Teegespräch, und man findet es lächerlich, anmaßend, oder heißt uns Phantasten – aber es tut nichts; denn es ist ein ganz anderes, mein Titus, einen seltnen Menschen zu Hause unter seinen vier Wänden allein und still wegzulesen und tausenderlei zu übergehen, oder ihn vor geliebten Herzen gleichsam laut reden zu hören, sich gegenseitig sein Verständnis zu vermitteln und an der schönen Freude in Freundesaugen seine eigne zu entzünden und reiner und begeisterter hinwallen zu lassen. Begeisterung wohnt nicht in einsamen Studierstuben, sondern nur der Fleiß; sie schwingt ihre Lohe nicht in Wüsten, sondern unter Völkern; nicht von einem einzigen, sondern von tausend Häuptern lodert sie empor – aber immer ist es Einer – und selten sind solche – der die Fackel schleudert, daß sie den Brennstoff fasse. Wir nennen ihn dann ein Genie.

Selbst von den weichen Locken des sechzehnjährigen Kindes Emma spielt ihre goldne Flamme; denn als neulich eine Stelle gelesen wurde, ungefähr so lautend: »Ihr großen, seligen Geister, die wir bewundern und zu denen wir beten, wenn der Mensch sein Glück wegwirft, weil er es kleiner achtet als sein Herz, so ist er so groß als ihr!« und als in jedem Auge der Beifall glänzte, sprang sie auf, und in den schönen braunen Kindesaugen schimmerten die Tränen – sie stand neben mir und blickte mich liebeglühend an; ich war selbst tiefgerührt und wußte nicht, wie es geschah, daß ich sie an mich zog und voll Liebe meinen Mund an die Kinderknospe ihrer Lippen drückte – sie drückte heiß entgegen und schlang die Arme um meinen Nacken. Es war nur ein Moment, und gleich darauf stand sie, wie eine Purpurrose, glühend vor Scham da, die Tränen noch in den Augen. Uns allen schien sie in diesem Augenblicke kein Kind mehr zu sein. Ich war im höchsten Grade verlegen: da trat Lucie zu uns, nahm[105] meine Hand und drückte sie recht herzlich, wahrscheinlich um Emmas und mein unschickliches Tun zu verschleiern; – dann küßte und herzte sie die Schwester und sagte wiederholt: »Du liebes, gutes, heftiges Kind, siehst du, welche Gewalt die Worte eines Menschen haben können? Und der, welcher diese sagte, und noch andere schöne, die in diesem Buche stehen, war ein einfältiger Pfarrerssohn aus Baiern, der Jahre lang ungekannt war und nichts hatte, als sein eigenes unerschöpfliches Herz, das nun auf die entferntesten Menschen und auf die entferntesten Länder wirkt, wie Predigten der Apostel und Propheten.«

Durch die Tränen schon wieder lächelnd, sagte Emma zu ihr: »Du selbst bist auch so eine Prophetin und kannst das Predigen nicht lassen, und denkst gar nicht daran, daß andere auch ein Herz haben, das seine Gefühle so gut hat, wie ihr alle, wenn man auch dieselben nicht so gelehrt sagen kann, wie ihr.«

Nach diesem Zwischenspiele lasen wir – Lucie war die Vorleserin – noch den Abschnitt zu Ende, und seit jenem Tage versäumt Emma keine einzige Vorlesung, ja, sie fing sogar an, Meßkunst zu lernen.

Nach solchen Abenden gehe ich dann im milden Vollmondscheine, den wir eben haben, mit einer fast unschuldigen, hochtönenden Seele durch alle möglichen Umwege in die Stadt zurück.

Zur Musik sind auch bestimmte Tage auserkoren. Daß aber da von keinem bloßen Herabschütten der Noten die Rede sein kann, begreifst Du; sondern da wird an das Pianoforte gesessen, jede Stelle des Tonstückes geprüft und um ihr Gefühl gefragt, wobei jedes seine Meinung abgibt, weil sie vorgetragen zu werden verlangt; dann forscht man nach der Seele des Ganzen und paßt ihr die Glieder an – dann so lange Proben, bis nicht mehr die kleinste Ausführungsschwierigkeit vorhanden ist – dann[106] eines schönen Abends braust ein Beethoven durch die Fenster hinaus.

Einmal war schon volle Instrumentalmusik; meistens aber wird er vierhändig auf dem Piano vorgetragen.

Angela ist auch hier wieder die Meisterin, und behandelt das Instrument so kräftig wie ein Mann. Ihr Lehrer hierin war derselbe Mann, der sie auch in dem andern unterrichtete. Dann, wenn sie vor dem Instrumente sitzt, zieht ein neuer Geist in dies seltsame Wesen; sie wird ordentlich größer, und wenn die Töne unter ihren Fingern vorquellen und dies unbegreiflich überschwengliche Tonherz, Beethoven, sich begeistert, die Tore aufreißt von seinem innern tobenden Universum, und einen Sturmwind über die Schöpfung gehen läßt, daß sich unter ihm die Wälder Gottes beugen – – und wenn der wilde geliebte Mensch dann wieder sanft wird und hinschmilzt, um Liebe klagt oder sie fordert für sein großes Herz, und wenn hierbei ihre Finger über die Tasten gehen, kaum streifend, wie ein Kind andrücken würde, und die guten, frommen Töne wie goldene Bienen aus den vier Händen fliegen, und draußen die Nachtigall darein schmettert, und die untergehende Sonne das ganze Zimmer in Flammen und Blitze setzt – und ihr gerührtes Auge so groß und lieb und gütig auf mich fällt, als wäre der Traum wahr, als liebte sie mich: dann geht eine schöne Freude durch mein Herz, wie eine Morgenröte, die sich aufhellt – die Töne werden wie von ihr an mich geredete Liebesworte, die vertrauen und flehen und alles sagen, was der Mund verschweigt.

Solches Tun und solche Freuden reinigen das Herz. Wir stehen dann alle vier am Fenster, wie lauter Geschwister, die keiner Schranke gegen einander bedürfen, weil kein Wunsch da ist, eine zu überspringen, sondern nur einfache Liebe. Und wenn ich fortgehe, so geschah es schon, daß sie mir freiwillig, Lucie und Angela, die liebe Hand[107] hinreichten, die Angela sogar herzlich drückend in die meine fügte, mit liebevollen, kühlen Augen mich anblickend, und sagend: »Kommen Sie morgen nicht zu spät, und gehen Sie heute in kein Gasthaus mehr.« Sie hat nämlich einen fast übertriebenen Haß gegen diese Anstalten. Und in Wahrheit, Titus! seit ich sie kenne, ist es mir selber so; mich widert das schale Unterhaltungsuchen unsäglich an, und hier ist es ziemlich, wie in jeder großen Stadt, im Schwunge, und sogar eine Abschiedsrede haben sie, die sagt: ich wünsche Ihnen gute Unterhaltung. – Ich glaube, ein Bauer meines Geburtstales schämte sich, wenn man diese Abschiedsrede zu ihm sagte, da er sich Unterhaltung nur erlaubt, aber Arbeit für ehrenvoll ansieht. Ich werde daher außer dem Mittagessen und manchmal abends, dem alten Aston zu lieb in einem Garten, nie in einem Gasthause gesehen.

Seit jenem Balle sind nun vier Wochen, und ich sehe sie seit der Zeit täglich – und dennoch weiß ich von ihren gewöhnlichen Verhältnissen nichts, ja nicht einmal ihren Familiennamen, sondern nur, daß sie bei Oheim und Tante wohnt, die alle Welt Oheim und Tante heißt, und die sehr reich sein sollen. Den Oheim sah ich nie, die Tante schon öfter, eine gutmütige, aber unbedeutende alte Frau, deren Gesicht ich schon muß irgendwo gesehen haben; aber ich kann durchaus nicht herausbringen, wo. Sehr neugierig bin ich auf ihren Lehrer. Im ganzen ist mir aber nicht zu Mute, als sollte ich um Näheres über sie fragen; genug, sie ist da, und scheint von dem gütigen Schicksale mir angenähert worden zu sein, auf daß kein Herz vergessen werde und seinen Anteil an Freude zugeteilt erhalte. Meine Stellung gegen sie ist ruhig, wie es nach der Aufregung in Folge ihres ersten Anblicks kaum zu erwarten war; aber sie ist so; jedes Scharfe und Harte entfernt sie von sich, oder es entfernt sich selber. Meine Empfindung ist sanft und still, und es[108] drängt mich nicht, sie ihr zu zeigen, ja, sie käme mir entweiht vor, wenn sie Erwiderung verlangte.

Im Sommer ist sie meistens weiß gekleidet, und ihre Kleider, abweichend von der jetzigen Mode, reichen ohne Ausnahme bis zum Halse. Ich glaube, es täte mir weh, wenn ich ihre nackte Schulter sähe – was ich doch bei den Hunderten, die sie täglich und gern zur Schau tragen, nicht anstößig finde. Lucie trägt es auch so, Emma nicht, ich glaube aus Widerspruchsgeist. –

Siehe da – der Diener bringt schon mein heraufbestelltes Mittagessen – nun, da ihr zwei, Du und sie, als Scheinwesen, nichts brauchet, so bleibet mittlerweile hübsch artig auf der Holzbank sitzen, indes ich aufstehen und ein wenig heraumschauen und den vorliegenden kalten Braten und den schönen Salat essen werde. Dann wollen wir weiter fahren und den Rest des Tages gemütvoll verwenden. – – – Aber fort waret ihr, als ich Messer und Gabel hinlegte – die Gestalten mit wirklichem Fleische und Blute, die um den Tisch stehen, haben euch verscheucht. – Nun sehr bald das Weitere; für jetzt lebe wohl, guter Titus; Aston und zwei Herren, und seine Mädchen und Angela (die körperliche) – das steht alles vor mir und lacht mich aus, daß sie um mein Vorhaben gewußt und mich hier überfallen haben. Ich muß mit ihnen fort. Merke Dir, wo wir in unserer Geschichte geblieben sind.

Quelle:
Adelbert Stifter: Gesammelte Werke in sechs Bänden, Band 1, Wiesbaden 1959, S. 97-109.
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