24. Die Träume

[59] 1774.


Aus süßem Schlummer weckte mich heut

Des jungen Tages rötlicher Strahl;

Siehe, noch flatterten Träume

Um die Scheitel des Wachenden.


Ich will euch täuschen! dacht' ich, und schloß

Die Augenlider, streckte den Arm,

Atmete tiefer, und lauschte

Ihren leisen Bewegungen.


Da schwebt' ein Traum zum horchenden Ohr;

Und fernher kam's wie Saitengetön,

Tönete näher und näher;

Und die Stimme Dorindens war's.


Ein andrer schlich mir zwischen das Haar

Der halbgeschloßnen Wimper, und schnell

Malte der lächelnde Bube

Vor das Auge Dorinden mir.
[59]

O weh! nun ward der Täuscher getäuscht,

Und träumte liebetrunkner, als je;

Bis die Phantome verschwanden,

Und die Thräne der Sehnsucht rann!


Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50,2, Stuttgart [o.J.], S. 59-60.
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