64. Abendlied eines Mädchens

[126] 1779.


Wenn des Abends Rosenflügel

Kühlend über Thal und Hügel,

Über Wald und Wiese schwebt,

Wenn der Tau die Bäume tränket,

Sich in bunte Blumen senket,

Und an jungen Ähren bebt;


Wenn im Schalle heller Glocken

Heimwärts sich die Schafe locken,

Und im Gehn das Lämmchen saugt,

Wenn das Geißblatt süße Düfte

In dem Wehen leiser Lüfte

Labend mir entgegen haucht;


Wenn die schweren Kühe brüllen,

Gern die blanken Eimer füllen,

Und die Dirne melkend singt,

Dann auf ihrem bunten Kranze,

Leicht, als schwebte sie im Tanze,

Süße Milch nach Hause bringt;


Wenn die Erlen duftend säuseln,

Wenn die Mücken Teiche kräuseln,

Wenn der Frosch sich quäkend bläht,

Wenn der Fisch im Wasser hüpfet,

Aus der kalten Tiefe schlüpfet,

Aus der Schwan zu Neste geht;


Wenn im Nachtigallenthale

Hesper mit verliebtem Strahle

Heimlich meine Quelle küßt,

Wenn, wie eine Braut errötend,

Luna freundlich kömmt, und flötend

Philomele sie begrüßt:
[127]

Dann umschweben süße Freuden,

Hand in Hand mit stillem Leiden,

Meinen Geist, mein Auge weint;

Wenn die Thrän' in Lunas Schimmer

Bebet, weiß ich selbst nicht immer,

Was die stille Thräne meint?


Manche nannt' ich Freudethränen,

Die vielleicht geheimes Sehnen

Dem getäuschten Auge stahl,

Mancher leise Wunsch entbebte

Seufzend meiner Brust, und schwebte

Ungesehn im Mondenstrahl.


Ich beschwör' euch, süße Düfte,

Ich beschwör' euch, kühle Lüfte,

Hesper, Luna, Nachtigall,

Sagt, beschleichet dieses Sehnen

Mich allein mit solchen Thränen

Im geheimen Mondenstrahl? –


Mädchen, frage nicht die Lüfte;

Mädchen, nicht die Abenddüfte,

Hesper, Luna, Nachtigall

Fühlen deiner Seele Sehnen,

Können deuten deine Thränen

Im geheimen Mondenstrahl.


Ich nur kann's! ich kann's, du Süße!

Mädchen, eil' in meine Küsse!

Sauge Lieb' um Liebe ein!

Wer da einsam will genießen,

Wird mit bittern Thränen büßen;

Laß mich dein auf ewig sein!

Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50,2, Stuttgart [o.J.], S. 126-128.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich

Deutsche Lieder aus der Schweiz

Deutsche Lieder aus der Schweiz

»In der jetzigen Zeit, nicht der Völkerwanderung nach Außen, sondern der Völkerregungen nach Innen, wo Welttheile einander bewegen und ein Land um das andre zum Vaterlande reift, wird auch der Dichter mit fortgezogen und wenigstens das Herz will mit schlagen helfen. Wahrlich! man kann nicht anders, und ich achte keinen Mann, der sich jetzo blos der Kunst zuwendet, ohne die Kunst selbst gegen die Zeit zu kehren.« schreibt Jean Paul in dem der Ausgabe vorangestellten Motto. Eines der rund einhundert Lieder, die Hoffmann von Fallersleben 1843 anonym herausgibt, wird zur deutschen Nationalhymne werden.

90 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon