98. Die Schwalbe und die Nachtigall

[179] 1795.


Progne und Philomele sind Schwestern; die eine verkündet

Uns den Sommer, und ist jedem willkommen und lieb;

Aber willkommner ist uns und heil'ger, siebenmal lieber

Philomele! wen rührt nicht Philomelens Gesang?

Nichts verkündet sie uns, doch lauschen wir, nimmer getäuschet,

Ihrem süßen Gesang, welcher uns Thränen entlockt.

Thräne der Sehnsucht, entfallen dem Aug', und dem Herzen entfallen,

Bist mir erquickend, wie Tau auf dem versengten Gefild!

Zarter Ahndungen bebender Glanz, du schimmerst mir schöner,

Als des erwachenden Tags Purpur in zitterndem Tau.

Singe mir Sehnsucht ins Herz, geliebte Sängerin! singe,

Philomele, mir Ruh, Ruhe der Ahndung ins Herz!

Ahndung ist unsre Weisheit hienieden, und unsere Wonne

Sehnsucht, doch kennen wir den, welcher die Sehnsucht uns ließ!

Sehnsucht ist Morgenröte; noch weilet unter dem Himmel

Unsre Sonne – sie kommt! Himmel und Erde! sie kommt!

Heil dir, Herrliche! Tritt aus deinem heiligen Osten!

Wahrheit strahlet dein Licht! Lieb' ist der Herrlichen Glut.

Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 50,2, Stuttgart [o.J.], S. 179.
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