Das Reh!

[261] Romanze


Ein Jäger ritt zum Buchenwald,

Die Morgensonne schien,

Ihm über'm Haupte wölbten sich

Die Blätter goldig-grün.

Und als er kam mit freud'gem Mut

An den heimlich stillen See,

Da sprang aus dunkelgrüner Flut

Ein wunderschlankes Reh!


Der Ritter warf den Speer von sich:

»Wer täte Dir ein Weh?!

Wohl aber fangen möcht' ich Dich,

Du dunkeläugig Reh!«

Durchs Dickicht brach sein Roß mit Macht,

Voran das schöne Tier,

Er ritt bis an der Waldesnacht

Verborgenstes Revier.


Im Eichenringe war ein Plan,

Tiefgrün, wie ein Smaragd,

Die Zügel zog der Ritter an

Von freud'gem Schreck gepackt.

Verschwunden war das scheue Reh,

Wohl über Stein und Stock,

Und vor ihm stand die Waldesfee

Mit flutendem Gelock.


In tiefen Augen zitterte

Ein Meer von Lust und Weh,

Die lange Wimper schattete,

Wie Zweige über'm See.

Sie schwebte leicht und zauberisch,

Wie Wind auf Wellen tanzt;

»Ich bin das Reh, nun schieße frisch,

Und triff mich, wenn Du kannst!«
[262]

Es ist ein altes Märchenlied,

Das hat gar düst'ren Schluß:

Daß, wer dem Reh ins Auge sieht,

Verzaubert sterben muß.

Der Ritter lag so totenbleich

Und ist nie mehr erwacht, –

Ich aber rate: Nehmet Euch

Vor jedem Reh in Acht!

Quelle:
Moritz von Strachwitz: Sämtliche Lieder und Balladen, Berlin 1912, S. 261-263.
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