22. Daheim

[162] Im Mai 1885, also neun Jahre nach unserer Flucht, kehrten wir heim. Nicht ohne Herzleid sagten wir dem Kaukasus Valet; wir hatten das schöne Land liebgewonnen, und man ließ uns auch nicht gern ziehen. Aber die Freude, nach so langer Trennung wieder »nach Hause« zu kommen als ein glückliches Paar, das sein Recht auf dieses Glück bewiesen und sich einen selbständigen Beruf erkämpft hatte, diese Freude überwog alles Abschiedsweh – und ebenso jubelnd, wie wir uns damals in Odessa eingeschifft, um unsere Liebe und unsere Abenteuerlust nach dem sagenhaften Kolchis zu tragen, ebenso jubelnd schifften wir uns jetzt in Batum ein, um wieder übers Schwarze Meer zu segeln: heim – heim! –

Unser erstes Reiseziel in Europa war Görz, der Ort, wo das Grab meiner Mutter stand. Dort wollten wir erst gekniet haben, ehe wir in das Suttnersche Vaterhaus heimkehrten. Darum durchquerten wir Wien, ohne uns aufzuhalten, und erst bis jener andächtig-wehmütige Besuch abgestattet war, ging die Fahrt wieder nordwärts zurück. Einen Tag hielten wir uns dann in Wien bei Bruder Karl auf, dessen Empfang schon einen Vorgeschmack des uns erwartenden Willkomms gewährte. Wir sagten unsere Ankunft in Harmannsdorf für den nächsten Tag an. Artur erbat sich, daß niemand zur Station entgegenkomme, damit er in dem ihm so teuren Harmannsdorf selber alle Lieben sogleich wiederfände.

Auf der Station Eggenburg erwartete uns also nur die herrschaftliche Equipage. Von Eggenburg bis ans Ziel ist noch eine Stunde Wegs. Ach, diese herrliche Fahrt! Es war ein sonniger, duftiger Maientag; Lerchenschlag in den Lüften, roter Klee auf den Feldern, lichte Freude in unseren Herzen. Die Landschaft in dem fernen Gebirgsland, wo nach der Mythe das irdische Paradies gelegen, war ja sicherlich großartiger und schöner als diese flache niederösterreichische Gegend – aber diese war ja die Heimat. Hundert[162] schöne Erinnerungen stiegen in mir auf und wohl tausend in ihm – es war doch die Stätte seiner Jugend und Kindheit. Als wir an jene Stelle der Straße gelangten, von wo der Turm des Schlosses sichtbar wird, da streckte er mit einem Freudenschrei den linken Arm nach dem Horizont aus, und mit dem rechten preßte er mich an sich.

»Willkommen zu Hause, mein Weib,« sagte er in tiefbewegtem Ton. Es war das einzige Mal im Leben, daß er mich »Weib« genannt, und darum vielleicht ist mir jener Augenblick mit seiner ganzen seligen Feierlichkeit so deutlich eingeprägt geblieben.

Und nun die Ankunft – die Einfahrt durch das Tor, das Halten vor der Schloßbrücke, wo die ganze Familie versammelt war – nun, es ist ja schon aus der Bibel bekannt, wie die Rückkehr des verlorenen Sohnes gefeiert zu werden pflegt.

Die schönsten Wohnzimmer des Schlosses waren für uns vorbereitet, und so war ich denn unter dem Dach von Harmannsdorf »zu Hause« – ein Dach, das unser Glück noch siebzehn Jahre lang beschirmen sollte.


Nun begann ein neues Leben – ein Familienleben – für uns. Harmannsdorf war von den Eltern und den drei Töchtern bewohnt; auch die älteste, an einen Grafen Sizzo in Trient verheiratet, war in unserer Mitte auf Besuch. Der älteste Sohn Karl, Sekretär im Handelsministerium, kam jeden Samstag, und die Urlaubszeit verbrachte er ganz in Harmannsdorf mit seiner schönen Frau und seinem zwölfjährigen Töchterchen Mizzi, welche Schülerin im Kloster Sacré Coeur war. Als solche war sie sehr fromm geraten und machte an ihrem Onkel Artur, den sie in ihr Herz geschlossen hatte und dessen kirchliche Lauheit ihr große Angst um sein Seelenheil einflößte, die heftigsten Bekehrungsversuche. Der zweitälteste Bruder Richard lebte mit seiner Familie in dem eine halbe Stunde entfernten Schloß Stockern, und natürlich war der Verkehr zwischen Stockern und Harmannsdorf ein sehr reger; von anderen Nachbarn, die wir häufig sahen, waren uns die liebsten die Besitzer von Mühlbach, Baron und Baronin Josef Gudenus, und der Schloßherr von Maißau, Oberstjägermeister Graf Traun. Aus Wien fanden sich oft die alten Studienkameraden Arturs ein – kurz, das häusliche und gesellige Leben ließ nichts an Gemütlichkeit und Lebhaftigkeit des Verkehrs zu wünschen übrig. Dabei retteten wir uns doch viele Stunden der arbeitsamen Einsamkeit. Denn wir pflegten weiter unsere wissenschaftlichen Studien, lasen immer zusammen dieselben Bücher und schrieben auch zusammen; nicht daß wir in der Schriftstellerei[163] Kompagniearbeit leisteten – jeder arbeitete selbständig, und wir lasen unsere Sachen gegenseitig erst, bis sie gedruckt vorlagen –, aber wir schrieben am selben Arbeitstisch. Mit sehr vielen zeitgenössischen Schriftstellern waren wir schon im Kaukasus in brieflichen Verkehr getreten. Jetzt wurden diese Korrespondenzen noch eifriger fortgeführt. Mein »Inventarium« hatte mir manche unbekannte Freunde in literarischen Kreisen zugeführt.

So wurden wir eines Tages durch einen begeisterten Brief Friedrich Bodenstedts überrascht. Weil der Dichter des »Mirza Schaffy« selber viele Jahre im Kaukasus zugebracht, so interessierte er sich lebhaft für die kaukasischen Novellen Artur Gundaccars. M. G. Conrad aus München, in dessen neubegründeter Monatsschrift »Die Gesellschaft« »Es Löwos« u.a. erschienen waren, hatte sich uns auch brieflich angeschlossen. Hermann Heiberg, Robert Hamerling, Graf Schack, Ludwig Büchner, Konrad Ferdinand Meyer, Karl Emil Franzos – das sind so einige Namen unserer Korrespondenten. Ferner Balduin Groller, der mit B. Oulot lange von Zugdidi aus korrespondiert hatte, ohne zu ahnen, daß dieser Nom de plume eine Frau barg, wie er selbst in einem seiner köstlichen Feuilletons folgendermaßen schilderte:


Ich waltete meines Amtes als Redakteur einer großen belletristischen Zeitschrift. Diese Flut von meist recht talentlosen Manuskripten, die alle gelesen sein wollten! Zwischendurch wie in einem weitläufigen, langweiligen Kuchen spärliche Rosinen, die seltenen Gaben des Talents. Einmal gab es einen besonders redaktionellen Festtag; ich hatte eine große Rosine gefunden, eine Arbeit von merkwürdiger Tiefe und Feinheit und ganz unvergleichlicher Anmut der Darstellung. Das war eine Freude, ein förmlicher Rausch – ein neues Talent – das ist doch nichts Geringes? Vor allen Dingen – wie heißt der Mann? B. Oulot – merkwürdiger Name, aber die Welt wird sich bald an ihn gewöhnen. Die Merkwürdigkeiten waren damit noch nicht abgeschlossen. Ich nehme das Begleitschreiben noch einmal zur Hand. Wo lebt der Mann und was treibt er sonst? Eine russische Briefmarke; der Brief ist aus Zugdidi, Gouvernement Kutais, datiert ... Und da steht auch eine Bitte um Nachsicht, da es sich um ein Erstlingswerk handelt. Das auch noch! Ich veranlasse sofort schleunige Honorarsendung, um den neuen Mitarbeiter in guter Stimmung zu erhalten, und schreibe unter rückhaltloser Anerkennung der ersten Arbeit eine dringende Bitte um weitere Beiträge. Diese kamen denn auch, und meine Freude und mein Staunen wuchsen nur noch. Da gab es eine wissenschaftliche und philosophische Beschlagenheit wie nur bei irgendeinem[164] Universitätsprofessor, dabei aber eine Grazie und über alles triumphierender Humor – nein wahrhaftig, ein Universitätsprofessor war das nicht.

Wir kamen ins Reden miteinander, natürlich brieflich. Wir wurden gar nicht fertig mit dem, was wir uns zu sagen hatten. Wir gerieten bei solchem Gedankenaustausch auf so viel Gesinnungsgemeinschaft in Kunst und Leben, daß es einfach Unsinn gewesen wäre, sich da noch mit gesellschaftlichen Floskeln herumzuschlagen, wir begannen uns als zwei gute Kameraden zu duzen. Bruderherz hin, Bruderherz her – einmal muß ich mich aber in einer Frage, die unter die damals allerdings noch nicht aufgerollte Lex Heinze gefallen wäre, doch so kräftig und unzweideutig ausgedrückt haben – unter Kameraden nimmt man es ja nicht so genau –, daß eine Abwehr angemessen erscheinen mochte. Sie erfolgte in sehr feiner, ganz unauffälliger Weise. Die Schlußformel des nächsten Briefes lautete nämlich: Deine ergebene –.

Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Also B. Oulot ist ein Frauenzimmer – wer hätte das dem Manne zugetraut! Ich forderte Aufklärung und erhielt sie. B. Oulot war – Baronin Bertha von Suttner, geborene Gräfin Kinsky. – Na, auch gut. Ich habe ihr das weiter nicht übelgenommen, und zu ändern war es auch nicht mehr.


Es war damals gerade die Zeit der »Revolution in der Literatur«, und wir folgten mit lebhaftestem Anteil den Phasen dieser Revolution. Conrad, Bleibtreu, Alberti: wir lasen alles, was sie schrieben, und staunten über ihre Kühnheiten. Eine »Moderne« begann damals sich ans Licht zu wagen – die freilich seither von allermodernsten Modernen ins alte Eisen geworfen ist. Auch in der bildenden Kunst machten sich damals die Anfänge der Sezession bemerkbar. Es war ein gärendes Treiben überall. Uebrigens – es gibt ja zu jeder Zeit ein Neuestes, das überrascht und verblüfft, das bekämpft wird und siegt und bald vieux jeu wird. Es ist nur eine Täuschung, daß einem die gegenwärtige Phase als so unerhört umstürzlerisch erscheint. –

Im Oktober dieses Jahres – des ersten Jahres unserer Heimkehr – tagte der Kongreß des Schriftstellerverbandes in Berlin. In unserer Eigenschaft als Verbandsmitglieder wurden wir aufgefordert, teilzunehmen, und das ließen wir uns nicht zweimal sagen.

Einige Bilder dieses Kongresses – der erste, dem ich im Leben beigewohnt, habe ich in meinem Tagebuch festgehalten und später in meinem »Schriftstellerroman« verwertet. –[165]

Am Vorabend des ersten Verhandlungstages »Versammlung und zwanglose Begrüßung der Verbandsmitglieder« in der Kaiserhalle.

An der Tür des Versammlungssaales, aus dem das Gemurmel herausschallt, das von mehreren hundert sprechenden Stimmen gebildet wird, steht der Hausherr, d.h. der Präsident des Kongresses, um die Gäste zu empfangen. Es ist Hermann Heiberg: groß, blond, elegant, mit edelgeformten Zügen.

Der Saal ist überfüllt; nur mit Mühe kann man darin zirkulieren. Ein großer Teil der Anwesenden sitzt schon längs der zwei oder drei Tafeln, die von einem Ende des Saales zum anderen laufen. Mit Mühe verschafft man uns noch einen Platz.

Hermann Heiberg stellt uns verschiedene Kollegen vor, durch diese werden uns wieder andere zugeführt. So oft ein Name genannt wird, der in der Literatur einen großen Klang hat, berührt es mich mit der Freude, die man empfindet, wenn beim Tombolaspiel eine Gewinstnummer ausgerufen wird. Nur eines dabei enttäuscht manchmal bitter: Die Erscheinung paßt mitunter so gar nicht zu dem Bild, das man sich im Geist von dem betreffenden Autor geschaffen hat. Zwar war dieses Bild ein ganz nebelhaftes, unbestimmtes, sozusagen linienloses gewesen – dennoch bedauert man dessen Vernichtung. Wie, diese duftigen Liebeslieder, diese schwärmerischen Phantasien hat der brutal aussehende dicke Herr gedichtet? Und jene raffiniert eleganten Bilder aus der großen Welt hat dieses ungelenke, kleinbürgerliche Männchen zum Verfasser? Was – jene von Erfahrung und Weisheit triefenden Essays hat der flaumbärtige Jüngling dort, der wie ein Spezereihandlungskommis aussieht, geschrieben?

Verschiedene Gestalten und Gesichter fallen mir auf, und ich erkundige mich um die Namen: Eine imposante Frauenerscheinung in schwarzer Toilette mit durchsichtigen Aermeln – interessantes Gesicht: Frau Ida Boy-Ed, die Verfasserin der »Männer der Zeit«. – Ein kleiner Mann mit langen weißen Haaren und mildleuchtenden Augen im bartlosen Gesicht, das ist Paulus Cassel, ein Apostel aufopfernder Menschenliebe. Dort an einen Pfeiler gelehnt – ein scharfer Kontrast zum Apostel Paulus – eine schwarze Mephistoerscheinung: Fritz Mauthner, der Satiriker –; daneben eine hübsche, lebhafte junge Frau – es ist die Amerikanerin Sara Hutzler, deren Spezialität originelle Kinderszenen sind. Dieselbe, die später den Schauspieler Kainz geheiratet hat, doch nach kurzer Ehe starb. Da endlich – wir erkennen ihn nach dem Bild: Mirza Schaffy, unser lieber brieflicher Freund Bodenstedt. Er eilt auf uns zu und setzt[166] sich zu uns. Da gibt es neue Reminiszenzen aus dem Kaukasus. Dort hat ja der Dichter seine jugendfroheste Schaffenszeit verlebt. Und erzählt uns von Tiflis, von den Wäldern von Mingrelien, von den Dächern der orientalischen Häuser, auf welchen bei Mondschein schöne Frauen Laute spielen und tanzen und wohin in der Stille der Nacht ein deutscher Dichterjüngling zum Stelldichein gerufen wird –, von der platonischen Leidenschaft, die diesem selben Jüngling die schöne Frau eines russischen Generals eingeflößt hat und die noch heute in des ergrauten Mannes Gedichten als dessen zauberhafteste Erinnerung glimmt. –

Nicht nur an diesem Abend, sondern während der ganzen Dauer der Schriftstellertagung hat sich Friedrich Bodenstedt uns angeschlossen; wir konnten gegenseitig einander nicht genug vom Kaukasus erzählen.

Am folgenden Tag begannen die Verhandlungen. Es war die erste Vereinssitzung, der ich je beigewohnt. Die ganze Sache: der auf erhöhtem Podium stehende grüne Tisch, die herumsitzenden Vorstandsmitglieder – in der Mitte der Präsident –, jedes mit einem Stoß Papier vor sich: das machte mir einen feierlichen Eindruck. Es ging mir dabei das Verständnis für eine Sache auf, die in der Zukunftsmenschheit immer tiefere und umfassendere Dimensionen anzunehmen bestimmt ist – nämlich das Bewußtsein der Solidarität. Das ist ein Bewußtsein, das noch kräftiger wirkt als das Gebot: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« Denn bei richtiger Solidarität ist der Nächste von vornherein mit Selbst identisch. Daß die Interessen aller zugleich die Interessen des einzelnen sind – und umgekehrt –, das gibt jedem einzelnen ein so erhöhtes Existenzgefühl, als wäre er das Ganze; er vermag sein Ich nicht mehr von der Gesamtheit zu trennen, da diese – wie das Wort Verein bezeichnet – eins, daher überhaupt unzertrennbar ist. Das ist freilich nur der ideale Vereinsbegriff – in der Praxis fehlt dem Dinge oft dessen eigentliches Lebensprinzip: die Einigkeit. –

Ueber die Gegenstände und den Verlauf der Verhandlungen – obwohl ich sie in meinem Tagebuch notiert finde – ist hier nicht der Ort zu erzählen, nur noch zwei oder drei Bilder aus den Veranstaltungen seien vorgeführt. – Im Rathaus Begrüßung durch den Bürgermeister und darauffolgende Vorträge. Es war ein Vortrag von Max Nordau angesagt, doch dieser fiel leider aus. Der in Gala gekleidete Lord-Mayor von Berlin bewillkommte die Gäste und sagte ihnen all die schmeichelhaften Dinge, die sich den »Arbeitern des Geistes«, den »Trägern der Kultur«, die den »Fortschritt des[167] Zeitgedankens« verkörpern und den »Stolz der Nation« bilden, nur sagen lassen.

Nach der obligaten Dankrede für den »ehrenden Empfang« in der »Metropole des Geistes« u.s.w. beginnen die angesagten Vorträge – Vorträge, an welche später die »New-Yorker Staatszeitung« die Bemerkung knüpfte, daß »die Genossenschaft der literarischen Free-lunchers statt über ihre Standesinteressen fördernde Einrichtungen zu beraten, über das Verhältnis des Alten Fritzen zur deutschen Literatur und über das Goethehaus spreche«. –

Am sechsten und letzten Tag Bankett und Ball im Festsaal der »Harmonie«. Wieder steht Hermann Heiberg am Eingang und bewillkommt die Kollegen und zahlreichen Gäste aus der Berliner Gesellschaft. Der große, taghell erleuchtete Saal füllt sich rasch. Man setzt sich zu Tisch, und beim Braten beginnen die Toaste und Reden. Zuerst spricht Karl Emil Franzos, um im Namen der Donaustaaten der deutschen Reichshauptstadt allerlei Freundliches zu sagen. Dann Julius Wolff. Die Redner, um besser gehört zu werden, besteigen eine Tribüne. Auch redende Damen darunter. Mir unbegreiflich ... wie kann man nur die Courage haben, so öffentlich zu sprechen? Eine junge Russin preist mit fremdem Akzent das »gérmanische« Lied; eine alte Schriftstellerin erklettert auch die Tribüne. Ihre Stimme ist so schwach, daß nur die ganz nahe Stehenden sie hören können; obwohl im ganzen Saal die Gespräche wieder aufgenommen werden, peroriert sie unermüdlich weiter, um – wie man erst nachträglich erfährt – für das Aufhängen einer Gedenktafel an Gutzkows Haus zu plädieren. Mit aller Wärme – besonders mit großen Armbewegungen, das einzige, was dem Publikum von dem Vortrage zugänglich ist – setzt sie die dringende Notwendigkeit dieser Gedenktafel auseinander, bis jemand unter der Tribüne ruft: »Die hängt schon lang.«

Jetzt spricht Oskar Justinus einen Toast in Versen auf die schreibenden Frauen und weist nach, daß es schon in ältester Zeit Blaustrümpfe gegeben, da bekanntlich die Leda nicht ungern die Feder zur Hand nahm.

Die letzte Rede hielt Hermann Heiberg, indem er die Tafel aufhob: »Es möge sich erfüllen,« sagt er, das Glas erhebend, »was jeder im Grunde seines Herzens wünscht, ob es recht sei oder – nach weltlichen Begriffen – unrecht ... Die weltlichen Begriffe sind oft falsch, und was heiß gewünscht wird, hat ein Recht auf Gewährung. – Ich trinke also auf die Erfüllung unserer heißesten Wünsche!«[168]

»Sonderbarer Trinkspruch,« bemerkte jemand an unserem Tafelende, »es scheint, Heiberg spricht im Fieber.«

»Das wäre nicht zum Verwundern,« sagte mein Mann, »die undankbare Aufgabe, Festarrangeur zu sein, hat so viel Verdruß und Plage im Gefolge, daß er sich – wie er mir vorhin selber sagte – nur mit Chinin aufrechterhält ... Und dann: er ist einer, der alles versteht, alles verzeiht und allen ein Stückchen Glück gönnen wollte, ob sie nun Rechtes oder – nach dem Urteil der Welt – Unrechtes wünschen. Mir ist auch ein heißer Wunsch erfüllt worden, den die anderen verurteilten – und es war mein Glück.«

»Und das meine,« fügte ich halblaut hinzu.

Quelle:
Bertha von Suttner: Memoiren, Stuttgart und Leipzig 1909, S. 162-169.
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