Begeisterung

[2] Romanze.


Wie beglückt, wer auf den Flügeln

Seiner Phantasieen wandelt,

Erde, Wasser, Luft und Himmel

Sieht er in dem hohen Gange.

Aufgeschlossen sind die Reiche

Wo das Gold, die Erze wachsen,

Wo Demant, Rubinen keimen,

Ruhig sprießen in den Schaalen.

Also sieht er auch der Herzen

Geister, welche Rathschlag halten,

In der Morgen-Abendröthe

Lieblich blühende Gestalten.

Phantasie im goldnen Meere

Wirft, wo sie nur kann, den Anker,

Und aus grünen Wogen steigen

Blumenvolle Wunder-Lande.[3]

Nirgend ruht sie, wer ihr folget

An dem schönen Zauberbande,

Steigt in 's Innre, schaut die Kräfte

Der regierenden Gewalten:

Wie aus Wasser alle Welten

Hat der ew'ge Trieb erschaffen,

Wie das Feuer ihre Wurzel,

Die in ihren Kindern pranget;

Und das Licht die höchste Blühte,

In dem Menschen Lieb' ihr Nahme,

Wie sich alles dahin stürzet,

Eilt im brünstigen Verlangen.

Immer will die Erde aufwärts

Liebend an der Sonne hangen,

Und das Feuer hält sie innen

In sich selber eingefangen;

So erbiert sie aus den Sehnen

Liebelechzend reine Wasser,

Diese sind die Mutter-Thränen,[4]

Die ihr fließen von den Wangen:

Und sie läßt die Blumen grünen,

Keimen läßt sie schöne Pflanzen,

Berge, Wälder, Flur sind trunken

In der Wonn', im Liebes-Glanze.

Dürstend lechzt der Menschenbusen,

Seele will hinauf gelangen,

Und in tiefster Inbrunst leise

Wird des Schaffens Trieb empfangen:

Denn das Feuer fängt die Liebe,

Und nun kann sie nicht von dannen,

Worauf manche tiefe Meister

Wissenschaft und Kunst ersannen:

Und am herrlichsten, am freisten

Die kristallnen Brunnen sprangen,

Die in Reimen, die in Tönen

Dichtender Begeistrung klangen.

Wieder sind es Mutter-Thränen,

Daß die Kinder ihr entschwanden,[5]

Daß der lieben süßes Leben

Um sie in den Steinen starret:

Aber drinn steht man das Herze,

Das die ganze Welt erlebet,

Und der Liebesgeist die Flügel

Lauter schwinget im Gesange,

Und der Schäfer hört es rauschen

Fern an seinem Blumenhange,

Und sein Herz in Freude zitternd

Will erwiedern, kann nur stammeln.

Quelle:
Ludwig Tieck: Gedichte. Teil 1, Heidelberg 1967, S. 2-6.
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