Achtes Capitel.
Erste Versuche.

[245] Die Nachsuchungen sollten ohne Zögern vorgenommen werden, und das aus zwei gleich wichtigen Gründen.

Der erste, an dem das Leben oder der Tod des geliebten Vaters hing, war der, daß jener Beweis für die Unschuld Joam Dacosta's eher herbeigeschafft werden mußte, als die Bestätigung des Urtheils von Rio de Janeiro eintraf. Die aus der Hauptstadt erwartete Antwort konnte ja, wenn die Identität des Angeklagten anerkannt wurde, nur den Befehl zur Vornahme der Hinrichtung enthalten. Der zweite lag darin, daß man Torres' Körper sobald als möglich aus dem Wasser holen mußte, um das Etui und dessen Inhalt unversehrt wiederzufinden.

Araujo legte unter diesen Umständen nicht nur für seinen Eifer und seine Intelligenz, sondern auch von seiner gründlichen Kenntniß des Stromes an dessen Zusammenfluß mit dem Rio Negro die vollgiltigsten Proben ab.[245]

»Wenn Torres, sagte er zu den jungen Leuten, von der Strömung überhaupt ergriffen worden ist, so werden wir das Bett des Flusses auf eine große Strecke hin absuchen müssen, denn es dürfte mehrere Tage er fordern, wenn wir abwarten wollten, bis der Leichnam desselben in Folge beginnender Zersetzung selbst wieder nach der Oberfläche käme.

– Das können wir nicht, sagte Manoel, wenn möglich, müssen wir noch heute zum Ziele gelangen.

– Wenn der todte Körper dagegen, fuhr der Pilot fort, in dem Gezweig oder den Rosenbüschen unten am Ufer hängen geblieben wäre, so würden wir denselben wahrscheinlich schon binnen einer Stunde entdeckt haben.

– An's Werk also!« mahnte Benito.

Es gab in der That keinen anderen Weg. Die Fahrzeuge näherten sich dem Ufer, und die mit langen Bootshaken versehenen Indianer begannen die Stelle des Flusses zu untersuchen, welche nahe der steilen Wand lag, über der vorher der Zweikampf auf dem beschränkten Plateau stattgefunden hatte.

Der Ort selbst war leicht wiederzuerkennen. Längs der Kreidewand des Uferabhanges zog sich ein blutiger Streifen herab bis zur Oberfläche des Wassers; auch verriethen noch viele einzelne Blutstropfen auf den Blättern die Stelle, wo der Leichnam verschwunden war.

Eine etwa fünfzig Fuß stromabwärts vorspringende Landspitze verursachte hier eine Art Wirbel und hielt das Wasser wie in einem geschlossenen Gefäße zurück. Am Strande selbst zeigte sich nicht die geringste Strömung, und die Stengel der Rosenbüsche ragten völlig unbewegt in die Höhe. Dieser Umstand ließ wohl darauf hoffen, daß auch Torres' Körper nicht in das bewegtere Wasser hinausgezogen worden sein werde. Neigte sich selbst der Grund des Flusses nach der Mitte zu ziemlich stark, so konnte er doch nur wenige Meter vom Ufer weggeglitten sein, und auch da war eine regelmäßige Bewegung des Wassers noch nicht zu bemerken.

Die Ubas und die Piroguen theilten unter einander die Arbeit, begaben sich nach den äußersten Grenzen des Wasserwirbels und begannen vom Umkreise nach dem Mittelpunkte zu jeden Fuß breit dieses Terrains genau abzusuchen.

Trotz aufmerksamsten Sondirens aber wurde der Körper des Abenteurers hierbei nicht gefunden, weder in dem verworrenen Rosengebüsch, noch auf dem Grunde des Flußbettes, dessen Neigungsverhältnisse bei dieser Gelegenheit sorgfältig festgestellt wurden.[246]

Zwei Stunden nach Beginn der Arbeit gelangte man zu der Ueberzeugung, daß der Leichnam jedenfalls in schräger Richtung in's Wasser gelangt und so weiter hinaus geglitten sei, wo jenseits der Grenze des Wasserwirbels die gewöhnliche Strömung hinabtrieb.

»Deshalb haben wir noch nicht zu verzweifeln, sagte Manoel, und vor allen Dingen ist das keine Ursache, unsere Nachforschung etwa gar aufzugeben.

– Müssen wir vielleicht, rief Benito, den Fluß in seiner ganzen Breite und in seiner ganzen Länge durchsuchen?

– In seiner ganzen Breite, das könnte sein, antwortete Araujo, in seiner ganzen Länge glücklicher Weise nicht.

– Und warum das nicht? fragte Manoel.

– Weil der Amazonenstrom eine Meile stromaufwärts von seiner Vereinigung mit dem Rio Negro einen sehr scharfen Winkel bildet und sein Bett sich gleichzeitig ziemlich steil erhebt. Dort befindet sich also sozusagen ein natürlicher Damm, den die Schiffer unter dem Namen der Barre von Frias hinlänglich kennen, und den nur auf der Oberfläche des Wassers schwimmende Gegenstände passiren können. Diejenigen aber, welche die Strömung am Boden mit dorthin führt, bleiben unbedingt an dieser unsichtbaren steilen Wand hängen!«

Wenn Araujo sich nicht täuschte, so bot dieser Umstand eine unerwartet glückliche Chance, und auf den alten Prakticus, der halb auf dem Amazonenstrome lebte, durfte man sich wohl einigermaßen verlassen. Seit dreißig Jahren schon diente er hier als Steuermann, und der Uebergang über die Barre von Frias, wo die Strömung des Wassers sich in Folge einer gleichzeitigen Einengung des Bettes nicht unerheblich steigerte, hatte ihm schon manche Stunde Arbeit und manchen Schweißtropfen gekostet. Die geringe Breite des schiffbaren Kanals, neben dem das Wasser nur sehr flach war, machte diese Passage außerordentlich schwierig, so daß hier schon mehr als ein Holztrain aus Rand und Band gegangen war.

Araujo hatte also ganz recht, zu sagen, daß Torres' Leichnam, wenn ihn das specifische Gewicht noch auf dem Sandboden des Strombettes festhielt, über diese Barre nicht hinausgeschwemmt sein konnte.

Freilich später, wenn der Körper durch die Ausdehnung der Gase wieder auf die Oberfläche kam, unterlag es keinem Zweifel, daß derselbe, leichter als vorher, über die ihn jetzt festhaltende Barre hinausgetrieben werden mußte und[247] dann als verloren zu betrachten war. Dieser rein physische Effect konnte jedoch vor Ablauf mehrerer Tage nicht wohl eintreten.

Kaum mochte es einen Mann geben, der die Stromverhältnisse der großen Wasserader Brasiliens besser gekannt hätte, als der Pilot Araujo.

Da er nun versicherte, daß der Leichnam nicht weiter als höchstens eine Meile bis nach jenem engen Kanal habe geschwemmt worden sein können, so mußte man ihn, wenn dieser Theil des Flusses sorgfältig untersucht wurde, offenbar wieder auffinden.

Keine Insel, kein Eiland unterbrach übrigens in dieser Gegend das Bett des Amazonenstromes. Hieraus folgte, daß man, wenn die beiden Ufer bis nach jener Barre hin abgesucht waren, das nicht über fünfhundert Fuß breite Bett des Stromes selbst auf das Genaueste durchsuchen mußte.

So ging man denn auch zu Werke. Die Fahrzeuge folgten dem rechten und dem linken Ufer; alle Rosenbüsche, alles andere Strauchwerk wurde mit den Bootshaken visitirt. Selbst von den kleinsten Vorsprüngen des Landes, an denen nur ein Körper hätte haften können, entging keiner der peinlichsten Nachforschung Araujo's und seiner Indianer.

Leider erwies sich Alles vergebens, und schon war der halbe Tag verstrichen, ohne daß der unauffindbare Körper auf die Oberfläche befördert worden wäre.

Jetzt wurde den Indianern eine Stunde Rast gegönnt. Während derselben stärkten sie sich durch einige Nahrung und gingen dann von neuem an die Arbeit.

Nun vertheilten sich die vier, von dem Piloten, von Benito, Manoel und Fragoso geführten Boote auf die ganze Strecke bis zur Barre von Frias in vier Zonen, denn jetzt galt es, das Bett des Stromes selbst abzusuchen. An einigen Stellen reichten freilich die Bootshaken nicht zu, um den Boden selbst zu betasten, man stellte also eine Art Schleppanker oder vielmehr Rechen her, indem man starke Netze theilweise mit Steinen und Eisenstücken füllte, diese an den Booten befestigte und langsam mit nachzog, so daß sie über den Grund hinstreifen mußten.

Mit dieser etwas mühseligen Arbeit beschäftigten sich Benito und seine Begleiter bis zum einbrechenden Abend. Die mit Rudern fortgetriebenen Ubas und die Piroguen strichen langsam über die Wasserfläche bis zur Barre von Frias hin.


Man zog sie vorsichtig herauf.
Man zog sie vorsichtig herauf.

Dabei gab es manche erwartungsvolle Minute,[248] wenn diese improvisirten Schleppnetze an irgend einem Gegenstande hängen blieben. Man zog sie dann vorsichtig herauf, aber statt des so begierig gesuchten Leichnams brachte man damit nur einige schwere Steine oder Packete von Wasserpflanzen an's Licht, welche von dem sandigen Grunde abgestreift worden waren.

Niemand dachte jedoch daran, die einmal angefangene Untersuchung aufzugeben. Wo es der Rettung des geliebten Herrn galt, vergaßen die Leute alles Andere. Benito, Manoel und Araujo hatten es gar nicht nöthig, die Indianer[249] zum Fleiße anzuhalten. Die braven Leute wußten, daß sie für den Fazender von Iquitos arbeiteten, für den Mann, dem sie in treuer Dankbarkeit ergeben waren, für das Haupt der großen Familie, zu welcher Alle fast ohne Unterschied gehörten.

Wenn es nöthig gewesen wäre, würden sie gewiß die ganze Nacht über das weite Bassin sondirt haben, denn Alle waren sich bewußt, wie viel der Verlust jeder Minute bedeuten könne.

Kurz vor Sonnenuntergang gab Araujo, der die Fortsetzung der Arbeit in dieser Weise für nutzlos hielt, den Booten ein Zeichen, zusammen zu kommen, und Alle vereinigten sich wieder am Ausflusse des Rio Negro, um nach der Jangada zurückzukehren.

Trotz aller Anstrengung, trotz aller Sorgsamkeit hatte man kein greifbares Resultat erzielt!

Als Manoel und Fragoso eintrafen, wagten sie in Gegenwart Benitos über diesen Mißerfolg kaum ein Wort zu äußern, da sie fürchteten, daß ihn die Entmuthigung zu irgend einem verzweifelten Schritte treiben könnte.

Jetzt verließ den jungen Mann aber weder der Muth, noch die kühle Ueberlegung auch nur einen Augenblick. In seinem Herzen stand der Entschluß fest, diesen letzten Kampf um das Leben, um die Ehre seines Vaters bis zum Ende auszufechten.

»Morgen weiter! rief er den Anderen zu. Wir beginnen unser Werk auf's Neue und wenn möglich unter günstigeren Verhältnissen.

– Ja, antwortete Manoel, Du hast recht, Benito. Wir dürfen doch kaum annehmen, das ganze Strombecken schon gründlich genug untersucht zu haben.

– Nein, gewiß nicht, fiel Araujo ein, und ich wiederhole, was ich schon früher behauptete, daß der Leichnam Torres' hier liegen muß, daß er über die Barre von Frias nicht hinausgekommen sein kann, daß er vor Ablauf mehrerer Tage nicht mit der Strömung weggeführt werden könne. Wahrhaftig, hier liegt er noch am Grunde, und meine Lippen sollen keinen Tropfen Tafia wieder kosten, wenn ich ihn nicht wiederfinde!«

Diese Versicherung aus dem Munde des Piloten erweckte neue und gegründete Hoffnung.

Dennoch glaubte Benito, der sich nicht mit Worten allein begnügen, sondern die Umstände so nüchtern als möglich geprüft wissen wollte, einen Einwurf machen zu müssen.[250]

»Gewiß, Araujo, sagte er, Torres' Körper wird noch in diesem Bassin sein und wir finden ihn wieder, wenn...

– Nun wenn? fragte der Pilot.

Wenn er nicht eine Beute der Kaimans geworden ist!«

Manoel und Fragoso erwarteten gespannt die Antwort Araujo's.

Der Pilot schwieg einige Minuten. Es schien, als müsse er sich auf eine Antwort besinnen.

»Herr Benito, begann er dann, es ist nicht meine Gewohnheit so leichtsinnig in's Blaue zu reden. Auch mir kam derselbe Gedanke; doch merken Sie wohl: Ist Ihnen während der zehn Stunden, die wir in dem Strome umherfischten, auch nur ein einziger Kaiman zu Gesicht gekommen?

– Nicht ein einziger, versicherte Fragoso.

– Und wenn Sie keinen sahen, fuhr der Pilot fort, so kommt das einfach daher, daß sich hier keine solchen Bestien aufhalten, und das wiederum erklärt sich durch den Umstand, daß jene gar keine Veranlassung haben, sich in das klare Wasser zu wagen, wenn sich eine Viertelmeile von hier dunkles Wasser findet, das sie von Natur vorziehen. Als die Jangada einmal von diesen Thieren überfallen wurde, kam es daher, daß in der Nähe kein Nebenfluß in den Amazonenstrom einmündete, in dem sie hätten Zuflucht finden können. Gehen Sie nach dem Rio Negro, und Sie werden Kaimaus zu Dutzenden sehen. Wäre Torres' Leichnam in jenen Nebenarm gestürzt, so müßten wir wohl alle Hoffnung aufgeben, ihn seinem nassen Grabe wieder zu entreißen. Er versank aber im Amazonenstrome und dieser wird ihn uns wieder ausliefern!«

Benito fiel ein Stein vom Herzen, er ergriff die Hand des Piloten, drückte diese voll Erkenntlichkeit und sagte:

»Also morgen, meine Freunde!«

Zehn Minuten später befanden sich Alle an Bord der Jangada.

Im Laufe des Tages hatte Yaquita einige Standen bei ihrem Gatten zugebracht. Als sie sich jedoch auf den Weg machte, merkte sie aus der Nichtanwesenheit des Piloten, Manoels und Benitos, und aus dem Fehlen jener Boote, was diese wohl vorzunehmen willens seien. Nichtsdestoweniger hütete sie sich, Joam Dacosta schon davon zu sprechen, in der Hoffnung, ihm am nächsten Tage von einem günstigen Erfolge Mittheilung machen zu können.

Sobald aber Benito nur einen Fuß auf die Jangada setzte, erkannte sie auch, daß er von keinem er wünschten Resultate zu berichten habe.[251]

Sie trat einige Schritte auf ihn zu.

»Nichts? fragte sie.

– Nichts, antwortete Benito, noch ist aber der morgende Tag unser!«

Jeder zog sich in trüber Stimmung nach seinem eigenen Zimmer zurück, und von dem Vorgefallenen war nicht mehr die Rede.

Manoel wollte Benito bestimmen sich niederzulegen, um wenigstens eine Stunde Ruhe zu genießen.

»Wozu? entgegnete Benito, glaubst Du, ich würde schlafen können?«

Quelle:
Jules Verne: Die Jangada. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band XXXIX–XL, Wien, Pest, Leipzig 1883, S. 245-252.
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